Die Melancholie der Politik

„SIMON BOCCANEGRA“ VON VERDI Placido Domingo tritt in einer Koproduktion der Mailänder Scala und der Staatsoper Berlin unter Daniel Barenboim auf

An der Scala werden Opern eben nicht inszeniert, sondern gesungen

Spät hat die Staatsoper Berlin ihre erste Premiere der neuen Saison nachgereicht. Sie, die Lindenoper, wie sie hier heißt, wirkt insgesamt etwas zerfleddert, die letzte Spielzeit auf der brüchigen Bühne des nostalgischen Nachbaus aus der schon sehr lange vergangenen DDR hat begonnen. Es geht darum, endlich auch in diesem Sanierungsfall Abschied zu nehmen von der Vergangenheit und hinüberzuretten, was daran noch immer lebendig ist, es durchzubringen durch die kommenden drei Jahre eines Provisoriums im Westen der Stadt. Melancholie also liegt in der Luft.

Zusammengehalten wird dieses Gebilde im luftleeren Raum wenig durchdachter, von Ressentiments und Prestigebedürfnissen geprägter kulturpolitischer Beschlüsse der letzten Jahre nur noch von Daniel Barenboim, dem Generalmusikdirektor, der aus guten, öffentlich klar und deutlich geäußerten Gründen nie Intendant werden wollte. Nun muss er es doch sein – und ist es natürlich nicht. Von ihm möchte ganz sicher niemand Abschied nehmen, er ist ein unglaublich lebendiger Musiker, schön wäre nur, wenn er das wieder ganz und gar sein dürfte in einem solide geführten, von ebenbürtiger intellektueller Kompetenz inspirierten Theater. Was also kann Barenboim da gegenwärtig machen?

Er hat ein zweites Standbein in der Mailänder Scala, und so brachte er das vermutlich Beste, was er dort erreichen konnte, mit nach Berlin: „Simon Boccanegra“, die eher selten gespielte, ihres Librettos wegen als schwierig verschriene Oper von Giuseppe Verdi, in einer Koproduktion mit der Scala, in der Titelrolle: Placido Domingo! Ein Ereignis also auch für Berlin, das ja noch nicht wirklich die Weltstadt ist, für die es überall gehalten wird. Selbstverständlich war die Premiere restlos ausverkauft. Sogar Joschka Fischer war gekommen, bisher nicht als Freund italienischer Opern bekannt, aber seit er bei BMW, Hauptsponsor der Staatsoper, als Berater angestellt ist – wofür, möchte man lieber nicht wissen –, bekommt er einen der teuersten Plätze zugeteilt und muss sein Gesicht zeigen.

Kein wirklich schöner Anblick, und auch sonst litt das Foyer an der Melancholie der objektiven Lage, die weder Domingo noch die Regie von Federico Tiezzi vergessen lassen konnten. Tiezzi ist unter anderem Kunsthistoriker und hat einen sehr belesenen, einleuchtenden Aufsatz für das Programmbüchlein geschrieben. Auf der Bühne sind davon nur Pappkulissen für die Sänger geblieben, eine Inszenierung ist nicht zu erkennen. Jedenfalls nicht in Berlin, was möglicherweise daran liegt, dass hier deutsches Regietheater erwartet wird. Zu sehen sind stattdessen historische Standbilder, woraus zu lernen ist, dass an der Scala Opern eben nicht inszeniert, sondern gesungen werden.

Niemand konnte das wohl besser Placido Domingo. Er, der immer mehr war als nur eine Stimme, hat Abschied genommen vom Leben des Supertenors, um dem Inneren der Musik zuzuhören. Er arbeitet mit Erfolg als Dirigent und hat sich jetzt mit Barenboim zusammen hineingedacht in Verdis Bariton-Rolle des ersten Dogen von Genua im 14. Jahrhundert. Sie handelt vom Scheitern eines Politikers, der bei Domingo die Leidenschaften der Macht und der Liebe längst hinter sich gelassen hat. Ein vornehmer Bürger seiner Stadt trauert seinem Ende entgegen. Makellos präzise artikulierend lässt er die weiten Bögen der melodischen und harmonischen Spannungen ausklingen, aber mit seltsam grauer, leerer Stimme. Sie klingt heller als in der Baritonlage üblich, als liege noch immer der verblasste Tenorglanz darin, denn Domingo hat es nicht vermocht, ihn zu verwandeln in die sonore Wärme der tieferen Lage.

Aber er hat Barenboim an seiner Seite, dazu die Sopranistin Anja Harteros, den Bass Kwangchul Youn, den Bariton Hanno Müller-Brachmann und den Tenor Fabio Sartori, herrliche Stimmen allesamt – wenn auch Sartori manchmal doch daran denken lässt, was Domingo einst aus dieser Rolle gemacht hätte. Zum Ausgleich vollbringt die Berliner Staatskapelle wahre Wunder an Klangschönheit, kaum je sonst sind Streicher von solch vibrierender Intensität und Transparenz zu hören, und Barenboim dirigiert diesen reifen Verdi so ruhig und umsichtig, also wolle er sich bei ihm entschuldigen für seine ständigen Wagnereien, mit denen er sonst um die Welt reist. Sie klangen manchmal etwas arg routiniert, und vielleicht ist es wirklich so, dass Barenboim gerade eine musikalische Tiefe der Gedanken wiederentdeckt hat, die bei Wagner niemals zu finden sind. Sie sind melancholisch, wie jeder Gedanke, der ernsthaft in die Tiefe der menschlichen Zustände eindringt, der politischen wie der seelischen. So wurde es trotz des abwesenden Theaters ein großer Abend für Giuseppe Verdi. NIKLAUS HABLÜTZEL