Die erwachsene Erstklässlerin

DIE ANALPHABETIN Lesen und Schreiben lernte Anna V. erst mit 38 Jahren

Bei Anna V. flossen die Tränen, bevor sie ihren drei Töchtern sagen konnte, dass sie Analphabetin war. Jahrelang hatte sie den Moment vor sich hergeschoben. Dann endlich „outete“ sie sich. Acht Jahre ist das jetzt her. „War gar nicht so schlimm“, sagt die 46-Jährige. Wie es passieren konnte? Sie zieht die Schultern hoch. „Ich bin immer gut durchs Leben gekommen.“

Anna V. ist eine funktionale Analphabetin. Lesen und Schreiben fällt ihr schwer. Jahrelang lebte sie mit ihrem Geheimnis, fand Erklärungen, „ich hab die Brille vergessen“, gab Entschuldigungen vor, „ich hab die Hand verstaucht“ – erst mit 38 Jahren entschied die alleinerziehende Mutter, sich dem Problem zu stellen.

Jetzt gerade sitzt sie in der Volkshochschule Hamburg-Billstedt, in genau dem Raum, in dem sie vor acht Jahren saß, als sie ihren ersten Lese- uns Schreibkurs machte. Die Abendsonne fällt auf ein Buchstabenplakat an der Wand. Mit A – wie Affe beginnt es. Daneben in schwarzer Schrift: „Der Affe klammert sich an Alex.“

Anna V. kam als Sechsjährige aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland. Deutsch lernte sie schnell. Sie ging in Hamburg zur Grundschule, dann zur Sonderschule. Ihre Noten waren nicht schlecht, ihre Lehrer waren nett zu ihr. Anna V. gibt niemandem die Schuld. Sie hat einfach nicht gelesen und geschrieben. Jahrelang nicht.

Nach neun Jahren Schule fing sie an zu arbeiten. Als Packerin bei einer Konservenfabrik. Dann in einer Firma, die Briefumschläge zurechtschnitt. „Mit ein paar Pausen habe ich immer gearbeitet“, sagt sie. Heute ist sie Putzfrau. Bei der Arbeit brauchte sie weder zu lesen noch zu schreiben. Und wenn doch, weigerte sie sich oder erfand Ausreden. Sie erinnere sich nicht an alles, aber sie hatte Strategien: „Ich hab mir vieles einfach gemerkt. Ich wusste zum Beispiel nicht, wie eine Straße heißt, aber ich wusste, wie man dahin kommt.“ Anna V. hat sich nicht weit weg bewegt, nie richtig Urlaub gemacht, ihr Leben spielte sich in einem engen Radius um die Wohnung ab. Das ging. Schriftkram gab sie engen Vertrauten. Und manches landete einfach in der „bösen Schublade“ – auch die Telefonnummer, die sie sich nach einer Fernsehsendung notiert hatte. Vier Millionen Erwachsene können nicht richtig lesen und schreiben, hieß es da in einem Werbespot. Heute geht man von 7,5 Millionen aus.

Mit den Jahren wurde die Angst, entdeckt zu werden, größer. Vor allem als die Kinder in die Schule kamen, erzählt sie. Wenn ihre beiden älteren Töchter Hilfe bei Hausaufgaben wollten, wies sie sie zurück. Zu den Elternabenden ging sie kaum. Anna Vs. Stimme stockt. Ihrer dritten Tochter sollte es besser gehen. Als diese zur Schule kam, holte sie die Nummer aus der Schublade, meldete sich beim Alphatelefon und gab vor, sich für eine Freundin zu erkundigen. Ihr Gegenüber merkte schnell, was los war. Sie überwand ihre Angst und meldete sich an.

„In der Vorstellungsrunde mussten wir unsere Namen schreiben.“ Das konnte sie, es war ein guter Start. „Wir machten Schreibübungen, Gitterrätsel, Spiele – alles ohne Druck.“ Es war schwer, sagt sie, vieles habe mit innerer Angst zu tun. Aber ihre Dozentin habe ihr Halt gegeben. Und es stärkte sie, dass es Menschen gab, die die gleichen Probleme hatten. Anna V. lernte wie eine Erstklässlerin, wie sie sagt. „Ich hab jedes Schild gelesen. So wie Kinder, die sich ganz genau eine Milchpackung angucken.“ Gemeinsam mit ihrer jüngsten Tochter lernte sie lesen. Jede las einen Satz bis zum Punkt. „Ich konnte der Lütten dann auch erklären, wann man eine Atempause macht, beim Punkt und beim Komma.“

Geschichten vorlesen – das kannten die anderen Töchter nicht. Trotzdem seien sie Leseratten geworden. Die Älteste fängt bald eine Ausbildung an. Die Mittlere will Abitur machen und hat gerade wieder eine Eins geschrieben, erzählt sie stolz. „Sie haben alles alleine geschafft.“

„Die Worte und ich, wir haben uns angefreundet“, sagt Anna V. Aber wenn sie nicht am Ball bleibe, kommen die Ängste zurück. Vor grauen Briefumschlägen graue ihr bis heute. Sie weiß jedoch, wo sie Hilfe bekommt. Auch zum Kurs geht sie noch. „Da arbeite ich nicht nur an der Schrift, sondern auch an mir.“ JASMIN KALARICKAL