Alles Lügen, die wahr sind

Auf einen Mord folgt die gnadenlose Konfrontation ohne festen Boden. Die Zwerge fehlen. Robert Walsers Dramolett „Schneewittchen“ eröffnet im Münsteraner Pumpenhaus die Jubelspielzeit

VON MARCUS TERMEER

Alles ist nur Märchen. Alles Lüge, auch die Lügen. Theater, schrieb Robert Walser, sei „das wahre Unwahre“. Es ähnele „den grausigen und schönen Geschichten im Traum“. Sein Dramolett “Schneewittchen“ wurde im Jubeljahr des Off-Theaters Pumpenhaus in Münster von Thorsten Lensing und Jan Hein mit ihrem Theater T 1 exzellent inszeniert.

Die ganze Bühne ist ein Kiesbett mit Gartenbank, auf der eine Taube sitzt. Das muss im ersten Bild als Schlossgarten-Idylle reichen. Dann machen sich die DarstellerInnen daran, den Kies mit Schaufeln gegen die Wände zu schmettern oder mit Besen und Harken beiseite zu schieben. Sie legen den nackten Boden frei. Wird auch die nackte Wahrheit befreit vom Schutt des schönen Scheins? Eigentlich nicht, denn: „Es ist ja alles nur ein Spiel“, sagt die Königin, denn wie oft bei Walser geht es um einen angehaltenen Augenblick. Schneewittchen (Ursina Lardi) klagt ihre Königin-Mutter (Martina Krauel) des Apfel-Giftmords und der Anstiftung des Jägers (Matthias Habich) zum Mord an. Nun ist sie tot, der Prinz war noch zu jung zum erlösenden Kuss. Bis auf den ist alles wahr. Es folgt die gnadenlose Konfrontation.

Walser entzieht dem Märchen den Boden und damit den Figuren ihren Halt. Die wechseln ständig die Positionen, irritieren sich selbst und gegenseitig, verwickeln sich in (Un-)Wahrheiten. Die Königin leugnet und gesteht zugleich, mordete angeblich aus Liebe zum Kind und aus Hass auf die vermeintliche Rivalin. Das Opfer klagt an, bittet die Täterin um Verzeihung und wäre dann doch lieber in der Traum-Stille des Glas-Sargs bei den Zwergen geblieben. Auch der Jäger leugnet, Schurke und Liebhaber der Königin zu sein und gibt es dennoch zu. Hass und Liebe, Gut und Böse, Spiel und Realität werden so ununterscheidbar. Diese Doppelbödigkeit transportiert auch die Inszenierung mit einer an Generalproben erinnernden Ausstattungs-Nacktheit. Gepaart mit Walser entrückter Verssprache steigert sich das Vexierbild von „Spiel“ und „Realität“. Getragen wird das vor allem von Ursina Lardi und Martina Krauel und dem „Star“ Matthias Habich.

Zum Schluss erscheint der König (Willi Kellers) mit Pappkrone und Flöte: Hat es Streit gegeben, will er wissen? Niemals, sind sich nun alle einig. Nur der Prinz macht da nicht mit und geht. Kurz schaut noch mal Schneewittchen als Mädchen vor dem Tod rein. Das Stück kippt in ein abstruses Musical. Dann versinkt im „Traumschlaf“, was vorher im stetigen dialektischen Umschlagen sichtbar wurde, könnte man mit dem Walser-Bewunderer Walter Benjamin sagen.

04. September 2005Karten: 0251-233443