Der Geruch von Kohle

Naturgeschichte der Schwerindustrie: Im Hamburger Bahnhof in Berlin macht die große Bernd-und-Hilla-Becher-Retrospektive letzte Station. In ihren „Typologien industrieller Bauten“ ist erneut ein Bildprogramm strengster Konzentration zu bewundern

VON BRIGITTE WERNEBURG

Das überraschte nun wirklich: Kaum hat man sich auf die Werkgruppe Kohlebunker konzentriert und ist näher an die Bildtafeln herangetreten, da riecht es tatsächlich nach Kohle. So beeindruckend hatte man sich die Begegnung mit Bernd und Hilla Bechers „Typologien industrieller Bauten“ im Hamburger Bahnhof, dem Berliner Museum für Gegenwartskunst, nicht vorgestellt. Allerdings, nach dem Konvolut Aufbereitungsanlagen ist der Kohlegeruch auch vor der Werkgruppe Wassertürme weiterhin zu verspüren.

Die vermeintlich synästhetische Empfindung hat profane Gründe. Noch immer liegt im ersten Stock des westlichen Museumsflügels ein kokeliges Aroma in der Luft. Dort hat es vor zwei Jahren tatsächlich gebrannt. Trotzdem ist nicht auszuschließen, dass das Becher’sche Werk auch eine solche Sinnesverwirrung hervorruft. Ist sein hervorstechendes Charakteristikum doch absolute Prägnanz. Prägnanz aber ist die spontane Erfahrung von Sinn und Notwendigkeit. Warum sollte sie nicht alle Sinne mit einschließen?

Prägnanz

Die Prägnanz des Becher’schen Werkes rührt von einer geradezu obsessiven Konzentration auf ein Themenrepertoire her. Sie ist das Resultat einer streng standardisierten Methode, mit der die Bechers ihre Dokumentation der Anlagen der Schwerindustrie „abwickeln“, wie sie selbst sagen. Seit Beginn der 60er-Jahre benutzen die beiden eine 13-x-18-cm-Großbildkamera, mit verschiedenen Objektiven und Filtern. Ihr Filmmaterial hat eine sehr niedrige Lichtempfindlichkeit und ein entsprechend hohes Auflösungsvermögen; stets handelt es sich um Schwarzweißmaterial. Die Anlagen werden bevorzugt von einem leicht erhöhten Beobachterstandpunkt aus aufgenommen, bei diffusem Licht, sodass die Aggregate vor einen neutralen Hintergrund zu stehen kommen. Der Bildgegenstand wird in mehreren Ansichten abgewickelt, wobei den frontalen Sichten im Winkel von 90 Grad, also der Vorder- wie der Rück- sowie den zwei Seitenansichten, größeres Gewicht zukommt als den perspektivischen Ansichten. Die Abzüge haben das Format 30 x 40 cm, das in entsprechender Umkehrung auch für das Querformat beibehalten wird. In unterschiedlicher Anzahl, meist aber neun Abzügen, lassen sich diese Abzüge zu Tableaus, auch Typologien genannt, zusammenfassen. Für die Präsentation von Einzelbildern wählen Bernd und Hilla Becher stets das Format 60 x 50 cm.

Deskription

Um die mächtige, landschaftsprägende, gleichwohl anonyme Architektur der technischen Aggregate, die das Paar Ende der 50er-Jahre als ein Wahrnehmungsereignis ersten Ranges entdeckte, adäquat festzuhalten, galt es, die dokumentarische Fotografie, wie sie sich vor dem Krieg in der Neuen Sachlichkeit herausgebildet hatte, zu rehabilitieren. Mit der deskriptiven Erfassung all dieser wunderlichen Funktionsbauten wie Winderhitzern, Hoch- und Kalköfen, Förder- und Kühltürmen, Gasbehältern oder Kohlebunkern schien die Fotografie neuerlich eine echte Aufgabe zu finden, die ihre medienspezifischen Qualitäten wieder zum Vorschein bringen konnte. Dazu mussten Bernd und Hilla Becher nur „zu den wahren Quellen der Fotografie zurückkehren“, wie sie 2001 in Le Monde sagten. Allerdings zeigt das Becher’sche Bekenntnis zur Wahrheit der Fotografie eine Schwerindustrie „ohne Bewegung, ohne Energie, ohne Feuer, ohne Dampf, ohne Dreck, ohne Rauch, ohne Produkte und ohne Arbeiter“, wie Armin Zweite, Direktor der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf, wo die Ausstellung erstmals gezeigt wurde, in seinem Katalogbeitrag schreibt.

Die ausgedehnte Stille, die die Bilder beherrscht, verdammt alles Erzählerische in ihnen von vornherein zum Schweigen. Eine große, grau in grau nuancierte Nüchternheit charakterisiert ihre Aufnahmen. Man kann den Bechers nicht vorwerfen, sie fetischisierten, monumentalisierten oder romantisierten die Anlagen. Dass Menschen in ihnen nur selten sichtbar sind, liegt an den Anlagen selbst. Weder Wassertürme noch Gasbehälter oder selbst Hochöfen brauchen mehr menschliche Zuwendung als eine gelegentliche Sicherheitskontrolle. In ihrem menschenleeren, seltsam ortlosen, subtilen Grau halten die Fotografien der Bechers eine Art Naturgeschichte der Schwerindustrie fest. Obwohl viele der Apparaturen schon dem Untergang geweiht waren und kurze Zeit nach ihrer Dokumentation gesprengt und abgetragen wurden, in den Bildern der Bechers scheinen sie jenseits aller menschlichen Geschichte zu existieren.

Anlässlich der aktuellen Ausstellung brachte der Kunstkritiker Werner Spies das Becher’sche Werk mit der Dingbesessenheit des zeitgleichen Nouveau Roman in Verbindung. Es ließe sich freilich auch sagen, Bernd und Hilla Becher arbeiteten mit ihren Typologien industrieller Bauten den „Mythen des Alltags“ zu, wie Roland Barthes sie zu jener Zeit analysierte: „Die Dinge machen den Eindruck, als bedeuteten sie von ganz allein.“ Dass ihr Bildgegenstand in der Zeitlosigkeit des Naturgegenstandes auftritt, hat viel zum ikonischen Status beigetragen, den ihre Fotografien rasch errangen. Jederzeit ist ein Foto von Bernd und Hilla Becher als ein Becherfoto zu erkennen. Und selten werden wir noch ein Aggregat der Schwerindustrie anders sehen können als in der Art, wie sie Bernd und Hilla Becher festgeschrieben haben. Damit aber siegt zunächst die Prägnanz über das Detail, die typische Form über ihre Varianz, der allgemeine Förderturm über die Fördertürme. Die Summierung selbst wird zum Anlass ästhetischer Erfahrung.

Ermüdung

Die Ermüdung ob der Redundanz der Mustersammlung lenkt den Blick aber bald auf das einzelne Objekt in seiner Unvergleichlichkeit. Und wirklich schlägt die Langeweile sofort in atemlose Verwunderung und Spannung um, wird dessen Formenreichtum erst deutlich. Man kann sich gar nicht satt sehen an der überbordenden Vielfalt der Eisenverstrebungen der Fördertürme; an der schäbigen Pracht der Aufbereitungsanlagen, deren Förderbänder die Bauten in die Höhe zu treiben scheinen; an diesen gerne aus Holz errichteten Mehrstöckern, die dem Begriff „Vereinigte Hüttenwerke“ eine ganz andere Bedeutung geben als die der Unternehmensstruktur. Und die schnell errichteten hölzernen Fördertürme, die zwischen 1940 und 1977 in Pennsylvania entstanden, erregen nachgerade Mitgefühl in ihrem raschen Verfall, wie ihn die Bechers Ende der 70er Jahre beobachten. Weil die verschiedenen Regionen der Schwerindustrie verschiedene, für sie typische Silo-, Turm- oder Bunkerformen entwickelten, wettet man insgeheim schon im Voraus darauf, dass dieses oder jenes Bild aus den USA oder Nordfrankreich stammt. Diese Information liefern die kargen Bildtitel, die stets den Namen des Unternehmens, den Standort und das Jahr der Aufnahmen nennen.

Melancholie

Im Detail und im Vergleich ist ein melancholisches Werk zu entdecken. Und das erzählt dann doch vom Geld, vom Kapital, das in die großen Anlagen investiert wurde und das bei den mickrigen in Pennsylvania kaum benötigt wurde, lag die Kohle doch gleich unter dem Erdreich. Es berichtet von der Rendite, die das Kapital erwirtschaften muss. Sinkt sie, bricht es seine Zelte ab. Zwar ist in der Unvergänglichkeit, in die die Bauten fotografisch eingebettet scheinen, ihr Untergang schon inbegriffen. Aber im einzelnen Bild wird er dann doch aktuell, konkret, in den Spuren des Verfalls und des schon lange eingestellten Betriebs. Und da erfreut nun jener Raum besonders, der auf die Bechers als die Archivare einer bedrohten Industrie- und Kulturlandschaft verweist, als die sie hinter ihrer künstlerischen Autorschaft kaum mehr sichtbar sind. Die 1969 entstandenen Aufnahmen von der Zeche Zollern 2, einem ehemaligen Steinkohlekraftwerk, zeigen ein umfassendes und offenes Interesse der beiden an der Dokumentation. Bernd und Hilla Becher gehörten damals zu den Mitbegründern einer Bürgerinitiative, die für den Erhalt der Zechenanlage kämpfte. Tatsächlich wurde erst deren Maschinenhalle und später die ganze Anlage unter Denkmalschutz gestellt.

Rund 100 Fotografien dokumentieren diese Anlage. Zwar sind die einzelnen Motive wie die Maschinenhalle samt ihrem reich verzierten Jugendstilportal, die umliegenden Nebengebäude, das Kesselhaus, das Magazin, die Lohnhalle durchaus im Becher’schen Verfahren der Frontal- und Übereckansichten fotografiert und die Beamten- und Arbeiterhäuser in der nächsten Nachbarschaft als kleine typologische Reihe angeordnet, doch Ausschnitte der Detaillösungen im Portal oder einzelne Interieurs lassen das bekannte Schema hinter sich. Das Industrieobjekt entkommt hier glücklich seiner Rolle des Readymade, die ihm sonst im Werk der Bechers zugewiesen wird.

Skulptur

Eine erfrischende Erfahrung, die die Erinnerung auffrischt: Als Bernd und Hilla Becher, der 28-jährige Grafiker und die 25-jährige Fotografin sich 1959 kennen lernten und gemeinsam zu arbeiten begannen, haben sie aus solchen weitausholenden Dokumentationen, beispielsweise über die Grube San Fernando in Herdorf, ihren besonderen Stil erst entwickelt. Erst im Laufe der immer dominanter werdenden formalen Ausgestaltung ihrer dokumentarischen Erkundungen wurden aus der kaum beachteten anonymen Architektur des Anfangs die vielbeachteten anonymen Skulpturen des Becher’-schen Oeuvres. Der Preis für Skulptur 1990 auf der 44. Biennale von Venedig für Bernd und Hilla Becher krönte diese Entwicklung. Die Dokumentation war in den Rang der Kunst aufgerückt. In vielen Fällen hat diese veränderte Wahrnehmung der Wertschätzung der gefährdeten Industriearchitektur ebenso geholfen, wie sie die eigentliche Emanzipation der Fotografie im Kunst- und Museumskontext befördert hat. Die so genannte Düsseldorfer Becher-Schule mit Namen wie Thomas Ruff, Andreas Gursky, Candida Höfer oder Thomas Struth bezeugt diese Selbstermächtigung unter dem Lehrer Bernd Becher. Am Ende aber möchte man die Größe und die Einmaligkeit des Becher’schen Werks gar nicht so sehr in den Foto-Ikonen einer untergegangenen Industriearchitektur sehen, deren Licht, wie Werner Spies schreibt, „uns wie das längst erloschener Sterne mit Verspätung erreicht“. Eher glaubt man es im bescheidenen, auch naiven Anliegen der genauen Aufzeichnung zu erkennen. Dem Anliegen, das ihre Arbeit stets beseelte, als sei die Fotografie eben erst erfunden worden. – Und jetzt ist auch kein Kohlegeruch mehr zu verspüren.

Bis 8. Januar, Katalog (Schirmer/Mosel Verlag) 30 €; neu: Susanne Lange, „Was wir tun, ist letztlich Geschichten erzählen … Bernd und Hilla Becher. Einführung in Leben und Werk“. Schirmer/Mosel Verlag, München 2005, 247 Seiten, 135 Abbildungen, 78 €