Literatur als subversive Kraft

Die Anglistin Azar Nafisi ließ in Teheran ihre Studentinnen „Lolita“ lesen und erzählt von ihrem Widerstand gegen die Intoleranz und die Unterdrückung der Frauen in Iran

VON RENÉE ZUCKER

Dieses Buch zu lesen ist, wie über einen Kriegsschauplatz zu laufen. Überall Brandstellen, manche kokeln vor sich hin, andere lodern jäh auf. Wenn man am Ende angelangt ist, muss man wieder von vorn beginnen, um nach all den einzelnen Schicksalen, von denen man erfahren hat, noch einmal das Gruppenbild zu betrachten: die sieben besten Studentinnen der Professorin für Literatur in einem geheimen Lesezirkel Mitte der Neunzigerjahre in Teheran.

„Ich schreibe heute über Nabokov, weil ich damit die Tatsache würdigen will, dass wir trotz aller Hindernisse in Teheran Nabokov gelesen haben. […] Ich will zwar über Lolita schreiben, aber ich kann jetzt zumindest nicht über diesen Roman schreiben, ohne auch über Teheran zu schreiben“, erklärt die Autorin. Warum junge persische Frauen ausgerechnet „Lolita“ als Beispiel westlicher Kultur lesen sollten, bleibt zwar völlig unklar. Doch dem Vergnügen an Nafisis Buch tut das keinen Abbruch.

Natürlich las der Zirkel nicht nur Nabokov, sondern auch noch Scott Fitzgerald, Henry James, und T. S. Eliot. Und natürlich geht es auch um die subversive Kraft der Literatur, die selbst bei solch unpolitischen Romanen wie „Madame Bovary“, „Ulysses“, „Lady Chatterley“ und eben „Lolita“ immer wieder zu staatlichen Verboten geführt hat. Aber vor allem geht es um die Beschreibung eines iranischen Mittelschichtsalltags zwischen der Mullah-Revolution und dem Ende der Neunzigerjahre.

Es ist der Alltag junger Frauen, die unter dem Schah keine Kleiderordnung zu befolgen hatten und nun erleben müssen, wie eine Miliz, die sich „Das Blut Gottes“ nennt, durch die Straßen fährt, um sicherzustellen, dass Frauen vorschriftsmäßig verschleiert sind, kein Make-up tragen und nicht mit fremden Männern gesehen werden.

Man konnte aber auch schon für weniger ins Gefängnis kommen, wie die Professorin von Studentinnen erfährt, die zuvor im Gefängnis saßen. Ein Mädchen wurde verhaftet, weil sie einfach zu schön war. Man hängte ihr irgendeine moralische Verfehlung an, dann wurde sie als sexuelles Spielzeug von einem Wächter zum nächsten gereicht.

Einige inhaftierte Frauen wurden mit den Wächtern verheiratet, von denen sie später vergewaltigt und exekutiert wurden. „Dahinter steckte die Logik, dass sie sonst, wenn sie als Jungfrauen starben, ja in den Himmel kommen würden.“ Studentinnen, die im Gefängnis gesessen hatten, heirateten oft ganz schnell nach ihrer Entlassung, um die Kerkermeister dadurch zu beschwichtigen, dass sie ja jetzt „gute“ Frauen geworden waren.

Azar Nafisi stammt aus einer sehr alten persischen Familie, die seit 14 Generationen, wie ihre Mutter nicht müde wird zu betonen, seit 800 Jahren also, ihren Beitrag zu Wissenschaft und Literatur leistet. Nafisi-Frauen studierten und lehrten schon, als die gute persische Frau noch zu Hause blieb. Politik galt allerdings nicht allzu viel in der Familie. Der Vater der Autorin war eine Zeit lang Bürgermeister von Teheran. Als er unter Mullahs in Ungnade fiel, war die Familie stolzer auf seine Gefängnisstrafe als früher auf das Bürgermeisteramt.

Nafisis Buch ist nicht nur ein leidenschaftliches Plädoyer für die Literatur und gegen den Totalitarismus, es ist auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, der Zeit, als sie selbst die einzige ausländische Studentin an einer Universität in Oklahoma in den USA war. Dort hatte sie englische Literatur studiert und gegen den Vietnamkrieg protestiert. Sie war nach eigener Beurteilung aufsässig und selbstgerecht. Von männlichen Landsleuten hielt sie sich fern, sie hatte bereits einen iranischen Ehemann hinter sich. Er hatte lange die Scheidung verweigert, streng nach dem Motto „Eine Frau betritt das Haus ihres Mannes im Hochzeitskleid und verlässt es im Leichentuch“. Am Ende musste sie ihm ihr Bankguthaben überlassen, damit er sich scheiden ließ. Geld hilft Frauen immer.

Vor allem ist Nafisis Buch aber auch eine erschütternde Klage über den Verlust der Heimat, nicht nur der geografischen, sondern vor allem der kulturellen, die eine Zeit lang viele Möglichkeiten bot. Nur aus ihrer Herkunft aus dem oberen Mittelstand lässt sich Azar Nafisis selbstverständlicher Anspruch auf ihr Interesse an der Welt, ihre Kreativität und ihr Mut erklären. Mut bewies sie, als sie sich unter dem Revolutionsrat weigerte, den Schleier zu tragen, und der Universität Teheran verwiesen wurde.

Der achtjährige Krieg zwischen Irak und Iran verdeckte für eine Weile die inneren Konflikte, weil nun alle auf der gleichen Seite kämpfen müssen; dennoch machen die Sittenwächter weiter Jagd auf unislamische Umtriebe. Nun bestimmten Saddam Hussein und Ajatollah Chomeini gemeinsam den Alltag. Bomben von dem einen, Repressalien von dem anderen. Als Teheran besonders heftig bombardiert wurde, bedeutete das allerdings mehr Freiheit für die Frauen, weil das Regime wegen anderer Dringlichkeiten die Zügel lockern musste. Partys mit Musik und Alkohol wurden veranstaltet, Frauen schminkten sich und trugen bunte Tücher.

Aber als der Krieg gegen den äußeren Feind mit unentschiedenem Ergebnis – außer reichlich Toten und Verletzten auf beiden Seiten – zu Ende war, blieb dem Regime nur noch der Kampf gegen die inneren Feinde. Und den führte es gründlich.

1997 verließ Azar Nafisi den Iran und ging in die USA.

Azar Nafisi: „Lolita lesen in Teheran“. Aus dem Amerikanischen von Maja Ueberle-Pfaff, DVA, München 2005, 424 Seiten, 17,90 Euro