Kinder dürfen Nein sagen

Sexueller Missbrauch an Jungen und Mädchen geschieht in der Regel dort, wo still geduldet wird. Eine Ausstellung in der Regenbogen-Grundschule in Neukölln will Kinder das Neinsagen lehren

VON TANIA GREINER

Tazio ist empört. Die Sache ist für den Neunjährigen ganz klar. Zusammen mit seinen Mitschülern steht er in der Eingangshalle der Neuköllner Regenbogen-Grundschule und blickt auf eine rote Stellwand in der Form eines dreieckigen Häuschens. Viele Behauptungen stehen da. Etwa die: Eltern dürfen Kinder überall anfassen. Jetzt gilt es, zu entscheiden. Stimmt es, oder stimmt es nicht? Tazio bewegt den an der Wand befestigten Metallzeiger schnell auf „Stimmt nicht“.

Manuela Burow lächelt zufrieden. Zu Recht. Seit fast einer Stunde begleitet sie die achtköpfige Jungengruppe durch die Ausstellung „Ja zum Nein“. Sie ist Mitarbeiterin von Strohhalm e. V., eine Berliner Initiative zur Prävention von sexuellem Kindesmissbrauch. Am Ende des Parcours mit sechs Stationen angekommen, sprudeln die Viertklässler die richtigen Antworten nur so hervor. Spielerisch haben sie erfahren, wo sexueller Missbrauch anfängt. Dass man sich wehren darf und wo Kinder Hilfe bekommen, auch das vermittelt die Wanderausstellung des Kieler Präventionsbüros Petze. Sie tourte bislang durch die Schulen Schleswig-Holsteins und kann auf Anfrage kostenlos ausgeliehen werden.

Sexuelle Gewalt fängt meist bei den Gefühlen an. Zur Veranschaulichung verteilt Manuela Spielkarten. Sie zeigen kleine Bildchen. „Die Frau ärgert sich ganz doll“, meint Ibrahim. Woran er das erkenne, will Manuela wissen. „Weil sie mit dem Fuß stampft“, antwortet der Neunjährige. Ein schlechtes Gefühl sei das, meint er und steckt das Kärtchen schnell in den Wandschlitz, wo die schlechten Gefühle hingehören.

Ein paar Meter entfernt erzählt Maria van Os Geheimnisse. Eine Gruppe Mädchen umringt die Pädagogin. Alle lauschen gespannt. „Zwei Mädchen spielen Doktorspiele“, beginnt Maria, „ziehen sich aus, betrachten ihre nackten Körper und streicheln sich ein bisschen. Beiden gefällt das. Sie beschließen, das für sich zu behalten.“ Ist das ein gutes Sonnenschein- oder ein schlechtes Wolkengeheimnis?, will Maria wissen. Esra schaut skeptisch. „Das ist nicht gut, weil sie nackt sind“, sagt sie mit kritischer Miene. Aylin, Yasra und Arzu wissen nicht recht, was sie sagen sollen.

„Das ist ganz schwierig, ich kann das verstehen“, vermittelt Maria vorsichtig. „Aber solange das beiden Mädchen gefällt, ist das nicht schlecht.“ Erst wenn eine von beiden das nicht mehr schön findet, dann sei es ein Wolkengeheimnis, erklärt sie. Alle nicken, und das Kärtchen verschwindet im Schlitz. Beim nächsten Geheimnis herrscht hingegen große Übereinstimmung unter den Kindern. Ein schlechtes Geheimnis sei das, wenn Onkel Hans einen streichelt, obwohl man das nicht wolle.

Heidrun Böhmer steht beobachtend am Rand. Zufrieden sieht die Schulleiterin der Regenbogen-Grundschule aus. „Im Unterricht behandeln wir das Thema sonst nur sehr eingeschränkt“, sagt sie. In der Ausstellung werde es wunderbar vermittelt. „Unsere Lehrer waren dafür bislang gar nicht ausgebildet.“ Durch Strohhalm e. V. werde das nun anders. Die Vereinsmitarbeiterinnen haben in Fortbildungen den GrundschullehrerInnen das Thema sexueller Missbrauch Stück für Stück näher gebracht.

Maria wechselt zur letzten Station. „An welchen Stellen möchtet ihr nicht von euren Eltern oder von anderen berührt werden?“, fragt sie. Auf der Stellwand ist ein nacktes Mädchen zu sehen. Arzu ist an der Reihe. Schüchtern steht sie im weiß-blau karierten Kleidchen da. In der Hand hält sie einen kleinen Magnetstein. Dann traut sie sich. Platziert den schwarzen Stein vorsichtig auf der Scheide des Mädchens. Entschlossen tun es ihr die anderen Mitschülerinnen nacheinander nach.

In dieser Wochen werden alle Kinder der zweiten bis vierten Klasse der Regenbogen-Grundschule das „Ja zum Nein“ lernen. Danach haben bis zum 9. September zwei andere Grundschulen im Rollbergkiez die Gelegenheit, durch die Ausstellung zu streifen. Im Unterricht soll das Thema anschließend vertieft werden.

Bevor es aber wieder zurück ins Klassenzimmer geht, müssen alle noch mal entschlossen Nein sagen. „Neiiiin!“, brüllt Tazio und droht mit dem Zeigefinger. Mohammed, Dominik und Ibrahim tun es ihm nach. Laut hallt es durch den Eingangsbereich der Grundschule. Das klingt ziemlich selbstbewusst.