Amerika schämt sich
: KOMMENTAR VON MICHAEL STRECK

Eine Woche Flutkatastrophe machen immer deutlicher: Die Vereinigten Staaten stehen vor einer Zäsur. „Katrina“ dürfte sich eingraben ins gesellschaftliche Bewusstsein wie „9/11“ oder Saigon. Der Sturm zerstörte nicht nur das Bild Amerikas von sich selbst. Er hat überdies die Kraft, die republikanische Ära schneller als gedacht zu beenden. Amerika schämt sich. In einem seit langem nicht mehr gesehenen Ausmaß. Selbst Abu Ghraib fand irrlichternde Verteidiger. Nun attestieren auch konservativste Blätter die nationale und kollektive Schande.

Die 24-Stunden-Medienmaschine erweist sich qua Existenz als wirksamster Ankläger: Warum können, wo Reporter sind, nicht auch Helfer und Soldaten sein, fragen sich die Amerikaner. Auf einmal erleben sie, die ihre Gesellschaft oft als die beste und nachahmenswerteste der Welt empfinden, ein bitteres Erwachen. Schockiert reagieren sie auf die Armut im eigenen Land, soziale Vernachlässigung großer Bevölkerungsteile, andauernde Segregation. Viele, einschließlich der politischen Klasse, weigerten sich lange hartnäckig, diese gesellschaftliche Realität anzuerkennen. Nun spült sie die Flut ins kollektive Gedächtnis.

Erneut erfährt Amerika seine Verwundbarkeit. Auf die Terroranschläge folgen Naturgewalten. Die US-Bürger fragen sich: Was passiert bei einem neuen Terroranschlag? Behauptet Bush nicht ständig, uns sicherer gemacht zu haben, mehrere Krisen gleichzeitig bewältigen zu können?

Diese Fragen und die unbegreiflich zögerliche Reaktion Bushs haben ihn in die schwerste Krise seiner Amtszeit gestürzt. Die Amerikaner schätzen an ihrem Präsidenten kaum etwas so sehr wie Führungsstärke. Einen Mangel daran verzeihen sie selten. Bereits vor „Katrina“ war Bush unpopulär wie nie zuvor. Innenpolitische Reformprojekte wie die Rentenreform sind festgefahren, der Irak läuft aus dem Ruder. Nun stellt der Sturm plötzlich eine Brücke zwischen Bagdad und New Orleans her. Fehlende Milliarden für die Schulen des Landes aufgrund des Kriegsabenteuers mochte man noch verkraften – fehlende Ressourcen zur Rettung von Menschenleben nicht. So könnte der Irakfeldzug Bush am Ende doch noch zum Verhängnis werden.