Lust an Maßlosigkeit

Lidokino (7): Das Kino, wie es Festivalleiter Marco Müller versteht, strebt zurück zum Kintopp der frühen Jahre

Ferrara interessieren weder visuelle Komposition noch handwerkliche Virtuosität

Wenn man in der diesjährigen Mostra eine Tendenz ausmachen will, dann liegt diese in der Lust an der Maßlosigkeit und am Spektakel. Das gilt für den Rummelplatz vor den Absperrungen; dicht an dicht drängen sich die Zelte der Sponsoren, die Schnellrestaurants und die Schaulustigen. Hinter den Absperrungen setzt sich die Tendenz fort, kaum dass der Festivaltrailer auf der Leinwand erscheint. Die kurze Animation folgt der Logik einer Geisterbahnfahrt. Jeder Schnitt führt zu einem neuen Schock, eine Leiche unterm Schrank gibt es, eine abgetrennte, aber noch lebendige Hand oder eine Vettel, die sich die Falten strafft, um ihr Alter vergessen zu machen.

Offenbar strebt das Kino, wie Marco Müller es versteht, zurück zum Kintopp der frühen Jahre, denn erstaunlich viele Filme arbeiten mit Schauwerten, wie sie den Action-, Horror- und Fantasy-Genres zu eigen sind. Wie bereichernd das sein kann, zeigen asiatische Beiträge wie Tsui Harks Eröffnungsfilm „Seven Swords“, Takashi Miikes „The Great Yokai War“ sowie die Filme der Retrospektive. In Suzuki Seijuns Yakuza-Variationen aus den 60er-Jahren etwa sind die Schießereien in delirierendes Technicolor getaucht; in „Our Blood Will Not Forgive“ (1964) kommt es zum Farbexzess, wenn aus einer Autofahrt auf einer Küstenstraße eine Fahrt auf dem Meer wird. Jeder Logik zum Trotz besteht das Bild aus lang anhaltendem blauem Tosen.

Bei anderen Filmen ist die Fallhöhe groß – etwa in Terry Gilliams „The Brothers Grimm“ (Wettbewerb). Der Regisseur von „Brazil“ und „Twelve Monkeys“ vermengt in seiner neuen Arbeit Motive aus der Märchenwelt der Brüder Grimm. Aus jeder Szene springt einem das Spektakelkino entgegen: Gruseleffekte, Blitze, Donner, Schießereien. Doch wer möchte sich die Erinnerung an die Grimm’schen Märchen auf banale Fantasy reduzieren lassen? Wenn Gilliam einen computeranimierten Wolf durch den Wald streunen lässt, reicht dieser an den Wolf bei weitem nicht heran, den ich mir vorstellte, als mir „Rotkäppchen“ erzählt wurde. Aus „Hänsel und Gretel“ nimmt der Filmemacher genauso viel, dass er Gretel verschwinden lassen kann, dann verliert er das Interesse – in meiner Erinnerung jedoch sind Hänsel, Gretel, die Hexe und das Zuckerkuchenhäuschen untrennbar miteinander verbunden. So fühle ich mich betrogen um den Bilder- und Geschichtenspeicher meiner Kindheit.

Anderswo geht es maßlos zu, obwohl Schauwerte, Action und Horror weit weg sind. Werner Herzog etwa hat mit „The Wild Blue Yonder“ (Orizzonti) eine Raumfahrtfantasie gedreht, die sehr anregend ist, sobald sie von interplanetaren Autobahnen, der Auflösung von Materie in Licht oder den wohltuenden Kräften des Chaos handelt. Abel Ferrara stellt im Wettbewerb „Mary“ vor, eine zunächst sehr komplexe, später leider zu eng geführte Reflexion über Glauben, Gott, Verfehlung und Vergebung. Der Film vermischt Heterogenes, apokryphe Evangelien, den Nahostkonflikt, Gibsons und Scorseses Jesus-Filme und den Geschlechterkampf vor 2.000 Jahren. Ferrara interessieren weder visuelle Komposition noch handwerkliche Virtuosität, dafür strahlt „Mary“ aber die dem Regisseur eigene Unbedingtheit aus.

Zur Serie der maßlosen Filme gehört auch John Turturros Wettbewerbsbeitrag „Romance & Cigarettes“, ein entfesseltes Musical, das seinen Zoten zum Trotz von Mel Gibsons Icon Entertainment produziert wurde. Ein Arbeiter namens Nick Murder (James Gandolfini) betrügt seine Frau, die Schneiderin Kitty Kate (Susan Sarandon), mit der Dessousverkäuferin Tula (Kate Winslet). Immer, wenn Handlung oder Dialoge stocken, wird gesungen und getanzt – und zwar so, dass die Stimmen der Darsteller den Originalsoundtrack begleiten. Meistens sind es Gassenhauer: „Piece of my heart“, „Delilah“ oder „It’s a Man’s Man’s Man’s World“. Die Witze sind versaut, die Wortspiele obszön, der Plot nebensächlich, und Kate Winslet zerstört als Sexbiest, was immer sie noch an „Titanic“-Aura ausstrahlte. „Turturro“, sagt der Kollege L., „hat einen heterosexuellen John-Waters-Film gedreht.“ Das gilt für dessen jüngere Filme. Für die älteren ist „Romance & Cigarettes“ nicht transgressiv genug. CRISTINA NORD