IM KALTEN DEUTSCHEN HERBST : Das Geschäft mit der Angst
ULI HANNEMANN
Kalt ist es geworden im Park. Es sind kaum noch Spaziergänger unterwegs. Untätig frieren die Dealer unter den Bäumen, die ebenfalls frieren, denn ausgerechnet wenn es kühler wird, verlieren sie ihre wärmenden Blätter, anstatt sich einen extra dichten grünen Pelz zuzulegen. Da hat die Natur nicht richtig geschaltet, da hat sie Mist gebaut, da hat sie gnadenlos verkackt. So klar muss man das mal sagen.
Immerhin das Fell der Eichhörnchen wird nun buschiger, doch wurde bei denen dafür das Gehirn vergessen. Zerstreut sehe ich sie zwischen den halbnackten Bäumen herumirren und nach von vorneherein vergessenen Verstecken für von vorneherein Vergessenes zu suchen. Auch diejenigen Zugvögel, die es nicht vor der Wahl Richtung Süden geschafft haben, müssen dieses Jahr zu Hause bleiben. Deutsche Vögel gehören nun mal nach Deutschland. Es weht ein neuer Wind durchs Land, und der ist bitterkalt.
Viele haben es jetzt nicht leicht, doch ganz besonders gilt das für diejenigen, die im Freien arbeiten müssen: Gärtner, Fußballspieler, Dealer und Exhibitionisten. Ein solcher schlüpft in diesem Moment aus dem Gebüsch hervor und stellt sich mir breitbeinig in den Weg. Wie lange er an diesem kalten Tag gelauert haben muss, vergeblich: weit und breit kein Mädchen zu sehen und nicht mal eine alte Frau! Jetzt ist er gezwungen, sich mit mir mittelaltem Herrn zu bescheiden. Er tut seine Pflicht und öffnet seinen Mantel. Darunter trägt er fleischfarbene Thermounterwäsche. So kalt ist es.
„Ja huch, ja Hilfe, ja ojemine“, mache ich brav, doch er merkt, dass mein Schrecken nicht echt ist. Er lächelt tapfer und zieht den Mantel noch ein Stück weiter auf, aber ich sehe auch die Träne, die ihm aus dem Augenwinkel quillt. Am liebsten würde ich ihn in den Arm nehmen, doch ich halte mich gerade noch zurück, denn das hätte seine Berufsehre endgültig vernichtet.
Trauer fasst mich an, sachlich und grob wie ein Stadionordner. Auf einmal muss ich an den heiligen Martin denken, der angeblich in kalter Herbstnacht zum Schwert griff und damit seinen Mantel durchteilte, um die Hälfte einem Bettler am Wegesrand zu schenken, damit dieser nicht mehr fror. Seither dient er den Katholiken als Schutzpatron der Exhibitionisten, der vor allem bei Blasenentzündung und polizeilicher Verfolgung angerufen wird: „Heiliger Martinus, herzensguter Mann, öffne deinen Mantel, damit ich staunen kann“, singen im Rahmen der traditionellen Martinsumzüge die Kinder in den Straßen.
Die Überlieferung ist freilich einer Lüge geschuldet. Hätte Martin seinen Mantel nämlich zerschnitten, hätte der keinem mehr genutzt, geschweige denn gewärmt. So griff der Heilige Martin zwar in der Tat zum Schwert, um damit allerdings den staunenden Bettler am Wegesrand in der Mitte durchzuteilen, damit dieser nicht mehr fror. Eine kluge und fromme Lösung, mit der alle Beteiligten zufrieden waren.
Doch die wahren Fakten werden von der Kirche vertuscht. Allzu dringend benötigt sie das Fantasiekonstrukt „mildtätiger reicher Mann versus armer Bettler“ als zentralen Baustein ihres windschiefen Lügengebäudes. Fände hingegen der Reiche einen praktischen und humanen Weg, der obendrein nichts kostet, und verschwände zugleich der Bettler, gäbe es Kirchenaustritte en masse. Das geht natürlich nicht in einer Jahreszeit, in der das Geschäft mit der Angst traditionell Hochkonjunktur hat.