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Eine Ehe vor Gericht

Letzten November wurde die 21-jährige Semra U. in Reinickendorf auf offener Straße von ihrem Exmann erstochen. Gestern begann der Prozess gegen ihn. Staatsanwalt schließt Ehrenmord aus

VON WALTRAUD SCHWAB

Gestern wurde am Kriminalgericht in Moabit der Prozess gegen Cengiz U. eröffnet. Ihm wird zur Last gelegt, seine geschiedene Frau Semra am 25. November 2004 in Reinickendorf auf offener Straße niedergestochen und mit 36 Stichen getötet zu haben. Die 21-Jährige ist eine von vier Frauen, die in Berlin innerhalb von kaum einem halben Jahr von ihren Männern oder anderen Familienangehörigen umgebracht wurden. Jedoch erst mit dem Tod Hatun Sürücüs, die zwei Monate später vermutlich von ihren Brüdern erschossen wurde, wurde öffentlicher Protest laut, der das Thema Zwangsheirat und Ehrenmord endlich in die Öffentlichkeit brachte und auf die politische Agenda setzte.

Die Anklage gegen Cengiz U. lautet auf Totschlag, nicht auf Mord. Nach den jetzigen Erkenntnissen könne man, so der Staatsanwalt Ralph Knispel, nicht von einem Ehrenmord ausgehen. Er will dies zwar nicht ausschließen, glaubt aber, dass der Angeklagte enttäuscht war, weil seine Tochter bei einem Besuch in einer Jugendeinrichtung, die das Umgangsrecht klären sollte, nichts mit ihrem Vater zu tun haben wollte. Da der Angeklagte aber schweige, wisse man derzeit wenig über die Motive. Auch den Vorwurf der Heimtücke sieht der Staatsanwalt nicht. Die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers sei nicht gegeben gewesen. Sie hatte ihren Exmann ja auf sich zukommen sehen.

Vor den Augen seiner dreijährigen Tochter und einer Bekannten seiner Frau habe er auf Semra U. eingestochen. Mit unbeweglichem Gesicht hört sich der Angeklagte die Ausführungen an. Nach der Tat im November war er nicht geflüchtet, zur Anklage will er sich dennoch nicht äußern. Sein Verteidiger kündigte jedoch an, dass sein Mandant zum nächsten oder übernächsten Verhandlungstag eine schriftliche Erklärung vorlegen wolle.

Weil Cengiz U. schweigt, geht das Verfahren in die Beweisaufnahme. Corinna Stieg, die Nebenklägerin, die das jüngere, jetzt ein Jahr alte Kind des Opfers in Vertretung von dessen Vater vertritt, sieht darin eine Chance. Denn nun käme das ganze Ausmaß des Familiendramas zur Sprache. Die in Berlin geborene Semra U. sei mit 12 Jahren verlobt und mit 14 Jahren in der Türkei an ihren Cousin Cengiz U. verheiratet worden, später aber mit ihm nach Berlin zurückgekommen. Während die Nebenklägerin darin durchaus die Indizien für eine Zwangsheirat sieht, sagt der Staatsanwalt, dass die Täterfamilie behauptet, es sei eine Liebesheirat gewesen.

Semra U. sei, so die Nebenklägerin, eine modern denkende Frau gewesen. Das Kopftuch habe sie nur getragen, wenn sie es unbedingt musste. In der eigenen Familie habe sie deshalb nicht wirklich einen Rückhalt gehabt. Kommt noch hinzu, dass sie mit ihrem neuen Lebenspartner, auch einem Cousin von ihr, ein heute einjähriges Kind hatte.

In der Beweisaufnahme werden weitere Abgründe sichtbar. So soll ihr arbeitsloser Exehemann Cengiz durch die Scheidung aufenthaltsrechtliche Probleme bekommen haben. Deshalb habe er der Ausländerbehörde gegenüber behauptet, das zweite Kind, das einen deutschen Pass hat, sei von ihm, obwohl der leibliche Vater die Vaterschaft anerkannt hatte.

Erst ein Test schaffte Klarheit. Die Nebenklägerin legt ein Schreiben vor, in dem der den Täter damals beratende Rechtsanwalt darlegt, dass der Erfolg bei der Erwirkung einer Aufenthaltserlaubnis entscheidend davon abhinge, dass der Vater eine Beziehung zu seinem Kind aufbaue. Deshalb habe er sich überhaupt wieder um ein Umgangsrecht mit seiner Tochter bemüht, obwohl er sich zuvor eineinhalb Jahre nicht um das Kind gekümmert habe. Nach einem Besuch in einer Jugendeinrichtung, wo der Vater auf die fremdelnde Tochter traf, tötete er seine Frau. Nach Auskunft einer Zeugin habe sich die Getötete schon lange bedroht gefühlt und in Lebensgefahr gewähnt.

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