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Archiv-Artikel

Verschwörer-Sturm

Die Arte/NDR-Produktion „Baltic Storm“ bietet Zweiflern an der Ursache der „Estonia“-Katastrophe Raum für krude Theorien (20.45 Uhr, Arte)

AUS STOCKHOLM REINHARD WOLFF

Das Fährschiff „Estonia“ geht auf seiner Fahrt von Estlands Hauptstadt Tallinn nach Stockholm in der Ostsee unter und reißt 852 Menschen mit in den Tod. Ursache: eine von russischen Agenten gezündete Bombe, mit der eine LKW-Ladung mit Waffen und geheimen Forschungsergebnissen beseitigt werden soll. Die deutsche Journalistin Julia(Greta Scacchi) kommt der Geschichte auf die Spur. In Stockholm trifft sie unter anderem den Rechtsanwalt Erik (Jürgen Prochnow).Gemeinsam stoßen sie auf eine globale Verschwörung, die von Estland über Schweden bis ins Pentagon und in den Kreml reicht.

„Tod, Lügen und Vertuschungen“ eben, so lautet ja auch der Untertitel von „Baltic Storm“. Einen tatsächlichen Bezug zum Untergang der „Estonia“ in der Nacht vom 27. auf den 28. September 1994 hat das nicht. Über den realen Hintergrund müsste man kein Wort verlieren, wenn sich der Film nicht selbst ausdrücklich als quasidokumentarisch ausgeben würde.

Zensur und Verdunkelung

„Ich bin Ideegeber und Mitverfasser des Filmes, um ein Gegengewicht gegen die gigantische internationale Verdunkelung der Ursachen dieser Katastrophe zu bilden“, wirbt der in Stockholm tätige deutsche Rechtsanwalt Henning Witte auf seiner Webseite (www.witte.se) für sich, ein Buch und „Baltic Storm“: Der Film habe „die Aufgabe, die von den zensierten schwedischen Medien erstickte Debatte über die Ursachen (…) für die Katastrophe wieder aufleben zu lassen.“

Dass der Film die Geschichte „nach den uns vorliegenden Erkenntnissen längs des tatsächlichen Geschehens“ erzähle, behauptet auch die Journalistin und „Baltic Storm“-Produzentin Jutta Rabe: Es sei „kein spekulativer Film“. Und Filmheldin Julia „natürlich meiner Person entliehen“. Das Drehbuch baut auf Rabes Buch „Die Estonia – Tragödie eines Schiffsuntergangs“ auf, in dem sie anders als die internationale Havariekommission, welche als Katastrophenursache hauptsächlich technische Unzulänglichkeiten des Schiffes verantwortlich macht, diverse Attentatstheorien präsentierte.

Zwar wurde tatsächlich mit der „Estonia“ im Auftrag westlicher Geheimdienste auch mehrfach exsowjetisches Militärmaterial nach Stockholm transportiert. Haltbare Beweise für ihre Theorien konnte Rabe trotz aufwändiger Tauchaktionen am Wrack allerdings nie vorlegen.

Das Tandem Rabe/Witte hatte sich schon 1996 gefunden: Rechtsanwalt Witte hatte sich als vermeintlicher Spezialist kurz nach dem „Estonia“-Untergang in schwedischen Medien mit der Einschätzung zu Wort gemeldet, dass juristisch vor allem der „Estonia“-Hersteller, die deutsche Meyer-Werft in Papenburg, schadensersatzpflichtig zu machen sei. 1996 schlug seine Stunde. Die DIS, Selbsthilfeorganisation von Angehörigen und Überlebenden der „Estonia“, schickte ihre bisherigen Rechtsvertreter in die Wüste und engagierte Witte. Nun war aber von einem Produkthaftungsprozess gegen die Meyer-Werft vor einem deutschen Gericht plötzlich keine Rede mehr. – Worüber man in Papenburg sicher nicht traurig war. Ende 1998 und im Streit mit der DIS legte Witte sein Mandat nieder.

„Baltic Storm“-Produzentin Rabe arbeitete derweil unter anderem für den NDR und Spiegel-TV, auch zum Thema „Estonia“. Neben – durchaus berechtigter – Kritik an den offiziellen Untersuchungsergebnissen präsentierte sie immer neue und abenteuerlichere Attentatstheorien. Spiegel-TV zog zunächst mit, ließ Rabe 2001 dann aber wie eine heiße Kartoffel fallen und nahm einen „Estonia“-Beitrag wieder aus dem Programm.

Nun also „Baltic Storm“, produziert von NDR und Arte. Der Film floppte in den Kinos. Völlig zu Recht. Jeder Funken etwa aufkommender Spannung wird erfolgreich von schwachsinnigen Dialogen, unglaubwürdig überzeichneten Charakteren, mit einer nervigen Optik, welche wohl fehlende Action ersetzen soll, und unter einem schicksalsschwangerem Musikteppich begraben. Der Film bietet weder Information noch Unterhaltung und verliert nach einer Stunde zwischen nebelverhangenen Kulissen vollends den Faden.

NDR-Doku im Giftschrank

Dabei hätten die Öffentlich-Rechtlichen statt solcher Peinlichkeit zum Thema „Estonia“ Interessanteres zu bieten. Zum Beispiel die Reportage „Der Untergang der Estonia“ von Christoph Lütgert. Der NDR versteckte sie im Januar um 3.15 Uhr in der „Nacht der Schiffskatastrophen“

Zuvor war der 1995 einmal gezeigte Film des NDR-Chefreporters über Jahre im Giftschrank verschwunden, offenbar auf Betreiben und politischen Druck der einflussreichen Papenburger Meyer-Werft. Lütgerts Film ist für die „Estonia“-Erbauer nämlich gar nicht angenehm.