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Archiv-Artikel

Warum zurückkehren?

Lidokino (9): Während George Clooneys „Good Night, and Good Luck“ als Favorit für den Goldenen Löwen gehandelt wird, stellen sich unter den Gästen des Filmfests erste Erschöpfungszustände ein

Erste Kollegen reisen ab, Lücken öffnen sich im Tagesablauf.Die typische Melancholie der letzten Festivaltage setzt ein

VON CRISTINA NORD

Als ich aus der Sala Perla trete, spricht mich eine Fernsehjournalistin an. Ob ich bereit sei, mich für eine japanische TV-Sendung über Takeshi Kitanos Film zu äußern, will sie wissen, und ob ich eine Vorhersage geben könne, wer den Goldenen Löwen erhalten werde. Ich sage zu, und schon stehe ich auf den Stufen vor dem Casino-Gebäude vor einer Kamera. Mir ist unklar, ob ich besser die Fragestellerin angucke oder in Richtung Objektiv. Ja, ich mochte „Takeshi’s“ wegen der Verspieltheit, und nein, ich wüsste nicht zu sagen, welchen Film die Jury auswählt.

Es ist dies eine Frage, die jedes große Filmfestival beherrscht; meist wird sie schon gestellt, bevor der Vorführer die erste Rolle des Eröffnungsfilmes vom Projektor genommen hat. Die Nachrichtenagentur dpa beispielsweise vermeldete potenzielle Preisträger schon am ersten Tag des Festivals, als hätte die Jury – in diesem Jahr steht ihr der Produktionsdesigner Dante Ferretti vor, die Mitglieder sind die Produzentin Christine Vachon, die Musikerin Emiliana Torrini, der Schriftsteller Acheng sowie die Regisseure Edgar Reitz, Amos Gitaï und Claire Denis – zur Privataudienz geladen.

Das heißt nicht, dass es keine Favoriten gäbe: Glaubt man dem Mostra-Blatt Ciak, dann würde das italienische Publikum den Löwen an George Clooneys „Good Night, and Good Luck“ vergeben, und die italienischen Kritiker würden es ihm gleichtun. Das wäre angesichts der Solidität von Clooneys Arbeit ein Kompromiss, mit dem wohl jeder leben könnte – außer diejenigen, die partout den Hauptpreis für einen der italienischen Wettbewerbsbeiträge fordern. Der Film, der mir am meisten bedeutet – Philippe Garrels „Les amants réguliers“ –, figuriert in der Ciak-Umfrage mehrmals als „debole“ (schwach). Doch wer weiß, zu welchem Schluss die Jury, deren Mitglieder für recht unterschiedliche ästhetische Auffassungen stehen, kommt; das Spekulieren ist mithin so müßig, wie es fester Bestandteil eines zu Ende gehenden A-Festivals ist.

Darin gleicht es der für die letzten Tage typischen Melancholie. Erste Kollegen reisen ab, Lücken öffnen sich im Tagesablauf. Plötzlich verengt sich das große Versprechen der unendlichen cineastischen Möglichkeiten. Die eigene Erschöpfung tut ein Übriges. So stößt ein Wettbewerbsbeitrag wie João Botelhos „O Fatalista“ an Erkenntnisgrenzen. Botelhos Film beruht auf Diderots „Jacques le fataliste“, dementsprechend löst ein philosophischer Disput den nächsten ab. Sobald man die englischen Untertitel verfolgt, die auf einem Display unterhalb der Leinwand eingespielt werden, sieht man vom Film nicht mehr viel.

Aufmunterung kommt aus den USA in Gestalt von Tim Burtons und Mike Johnsons Stop-Motion-Animation „The Corpse Bride“ (außer Konkurrenz). Stop-Motion bedeutet, dass nicht Zeichnungen, sondern Puppen animiert und gefilmt werden. In diesem Falle sind die Puppen Schauspielern nachempfunden. Der Protagonist Victor trägt die Züge Johnny Depps, seine Braut Victoria die von Emily Watson, und die titelgebende tote Braut, die Victor ohne dessen Wissen und gegen dessen Willen ehelicht, ist nach Helena Bonham Carters Vorbild modelliert. Beim Erkennen der Ähnlichkeiten freilich ist Großzügigkeit vonnöten, da sich das Kindchenschema – hohe Stirn und große Augen – jeder Figur aufprägt, die der Film als Sympathieträgerin setzt.

„The Corpse Bride“ fügt sich in die Tendenz dieser Mostra, das Fantastische in den Mittelpunkt zu rücken. Motive wie der Märchenwald, der Abstieg in die Unterwelt oder die Mesalliance zwischen Toten und Lebenden tauchten schon in anderen Filmen auf, aber kaum je so charmant-musikalisch und pointensicher wie bei Burton und Johnson. Im Totenreich klappern die Skelette, als Victor sein Ansinnen vorträgt, zu den Lebenden zurückzukehren. „Why go up there when people are dying to get down here?“