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Archiv-Artikel

Kuhn will nicht hinter der Bahn herlaufen

STUTTGART Grüner Sieger der OB-Wahlen verlangt Transparenz bei Stuttgart 21 und stellt CDU Armutszeugnis aus

„Die Grünen sind in Stuttgart hegemonial geworden“

FRITZ KUHN

AUS STUTTGART NADINE MICHEL

Zwei Wochen lang hatte sich der Oberbürgermeisterkandidat Sebastian Turner an seinem grünen Kontrahenten Fritz Kuhn abgearbeitet. Vor dem zweiten Wahlgang meinte er, die Stuttgarter und vor allem die Autofahrer vor dem warnen zu müssen, was ein zweiter grüner Entscheidungsträger in Baden-Württemberg alles anrichten könnte. Am Tag danach drehte sich die Rollenverteilung.

Mit einer absoluten Mehrheit der Wählerstimmen im Rücken betrieb Kuhn selbstbewusst eine Analyse des Zustands der CDU. „Die CDU ist in den Großstädten nicht mehr mehrheitsfähig“, sagte er. „Sie ist nicht mehr in der Lage, ein großstädtisches Gefühl zu transportieren.“ Und: „Die CDU versteht als Letztes die modernen Themen.“ Es seien die Grünen, die die Diskussionen etwa über Bildungs- oder Verkehrspolitik bestimmen würden. „Die Grünen sind in Stuttgart hegemonial geworden.“ Sie seien „breit in das Bürgertum eingedrungen“, sagte Kuhn. „Wenn das anders wäre, könnten wir nicht den Ministerpräsidenten und den Oberbürgermeister in der Landeshauptstadt stellen.“

Tatsächlich ist es den Grünen gelungen, ihren Erfolg von der Landtagswahl 2011 zu bestätigen. 52,9 Prozent holte Kuhn und wird damit am 7. Januar das Amt von Nochoberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU) übernehmen. Er wird dann bundesweit der erste Oberbürgermeister mit grünem Parteibuch in einer Landeshauptstadt sein. Zudem stellen die Grünen seit 2009 die stärkste Fraktion im Stuttgarter Gemeinderat.

Gelingen konnte der Wahlsieg, weil Kuhn auch in den CDU-Hochburgen punktete. In den grün dominierten Innenstadtbezirken holte er an die 65 Prozent. Einer Studie der Universität Hohenheim zufolge schaffte es Kuhn, die meisten WählerInnen des Stadtrats und S-21-Gegners Hannes Rockenbauch ebenso wie die der SPD-Kandidatin Bettina Wilhelm für sich zu gewinnen. Beide hatten nach dem ersten Wahlgang ihre Kandidatur zurückgezogen.

Weiter heißt es in der Studienauswertung, dass die Grünen schon lange kein „Bürgerschreck“ mehr seien. „Sie gewinnen nicht nur Stimmen aus dem bürgerlichen Lager, sie sind selbst Bestandteil des bürgerlichen Lagers geworden.“

Mit Blick auf die Bundestagswahl im kommenden Jahr beschwor der grüne Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Jürgen Trittin, am Montag die Kraft der linken Mitte. „Die politische Rechte hat die Hegemonie über die bürgerliche Mitte in Stuttgart und Baden-Württemberg gegen eine klare Alternative verloren“, sagte er der taz. „Die bürgerliche Mitte von links zu erobern – das ist Lehre und Auftrag für die Bundestagswahl.“

In Stuttgart richtet sich die Aufmerksamkeit jetzt wieder verstärkt auf das Großprojekt Stuttgart 21. Mit Kuhn wird nun ein zweiter Grüner neben Landesverkehrsminister Winfried Hermann in den S-21-Lenkungskreis einziehen. Damit wird sich das Machtgefüge in diesem Gremium, in dem die Projektpartner zusammen mit der Deutschen Bahn sitzen, verschieben. „Ich nehme mal an, dass das kein Wahlergebnis ist, über das sich die Deutsche Bahn freut“, sagte Hermann der taz.

Kuhn erklärte am Montag, dass die Verträge bestehen blieben. „Was ich aber erwarte, ist Transparenz von der Bahn.“ Die Zeit, dass die Stadt „hinter der Bahn herläuft“, werde mit seiner Amtszeit zu Ende gehen.

Just am Tag nach der Wahl tagte auch der S-21-Lenkungskreis in Stuttgart. Die Bahn nannte neue Mehrkosten in Höhe von 224 Millionen Euro, über die gestritten wird, ob sie von der Bahn getragen werden müssen.

Als eines der ersten Themen will Kuhn im Januar die Feinstaubproblematik Stuttgarts angehen. Er plant für die Stadt mit Feinstaubrekorden eine Parkraumbewirtschaftung, Tempolimit auf einigen Straßen, aber auch die Sanierung von Heizungsanlagen. Zudem erklärte er, Stuttgart weltoffen regieren zu wollen. Die Landeshauptstadt hat einen der höchsten Migrantenanteile deutscher Großstädte. Fast zwei Fünftel der Stuttgarter haben einen Migrationshintergrund.