: Die Logik der Lager
VON ULRIKE HERRMANN
Wird die Linke noch gebraucht? Offensichtlich. Denn die Konservativen strengen sich richtig an, die Linken zu erfinden – dieses Phänomen trägt den Namen Paul Kirchhof. Der Ex-Verfassungsrichter ist eine Art neue „Rote Socken“-Kampagne.
Unionschefin Angela Merkel hat Kirchhof nicht zum Kompetenzkandidaten ernannt, weil ihr ein Steuerkonzept fehlte. Im Gegenteil, CDU und CSU stritten sich jahrelang über ihr Finanzprogramm. Am Ende stand der Konsens, den Spitzensteuersatz auf 39 Prozent zu senken. Einziges Problem: Dieser Kompromiss unterschied sich kaum vom rot-grünen Spitzensteuersatz mit 42 Prozent. Zwar waren sich alle etablierten Parteien einig, dass sie einen Lagerwahlkampf führten – allein es fehlten die Lager, von der Linkspartei einmal abgesehen.
Wahlen ohne Wahl sind langweilig; die Bürger beklagten sich über eine „Egalwahl“. Das ist mit Paul Kirchhof vorbei. Ein Spitzensteuersatz von 25 Prozent? Dazu hat jeder eine Meinung. Schröder war bis eben noch ein Mann der Mitte, im Fremd- wie im Selbstbild. Kirchhof hat ihn nach links geschoben, und der Kanzler hat diese Rolle dankbar angenommen.
Die Taktik der Angela Merkel mutet zunächst seltsam an: Die Union ist doch eine Volkspartei! Da wirkt es schlicht wahnsinnig, die Mitte zur Linken umzudefinieren und sich selbst rechtsliberal zu radikalisieren. Zumal dies auch noch dem Wählertrend widerspricht. Der Göttinger Parteienforscher Franz Walter erinnert unermüdlich an die Pikanterie, dass die Union in den letzten Jahren erstmals zur „Mehrheitspartei der Arbeiterklasse“ aufgestiegen ist – dank Hartz IV. Und dieses proletarische Klientel wird nun wieder durch radikale Steuerthesen verprellt. Was soll das?
Darauf gibt es drei denkbare Antworten:
Erstens: Merkel ist eine Überzeugungstäterin. Unwahrscheinlich, sonst hätte sie es nicht bis zur Kanzlerkandidatin gebracht.
Zweitens: Merkel liest keine Wahlanalysen. Noch unwahrscheinlicher. Bleibt nur noch:
Drittens: Merkel sah sich gezwungen, einen Lagerwahlkampf zu starten. Weil es keine starke Linke gab, musste sie eine erzeugen.
Merkel ist in einer Logik gefangen, der sie nicht entrinnen kann. Das ist schon oberflächlich klar: Es können sich nicht alle Parteien in der Mitte drängeln, selbst wenn sie Volksparteien sind. „Wechselstimmung“ kommt nur auf, wenn ein Wechsel zumindest simuliert wird.
Doch die Logik der Differenz reicht tiefer, gehört ins Zentrum des Denkens und der Sprache. Der Mensch versteht nur in Unterscheidungen. Jeder Begriff markiert bereits eine Grenze. Wer „Rose“ sagt, sagt immer auch, was für ihn keine Rose ist. Denken ist binär.
Daher erstaunt es nicht, dass auch die Demokratie letztlich nach binären Kategorien funktioniert. Allerdings ist konservativ/links nicht das einzige Unterscheidungspaar, das politisch wichtig werden kann. Dazu gehören auch regional/national sowie einheimisch/fremd.
Wie regionale Abgrenzung unpolitisch funktioniert, lässt sich etwa in Hamburg jedes Wochenende erleben: Dann lachen und empören sich die Hanseaten über die bekloppten Pinneberger von nebenan – immer schön am Autokennzeichen PI zu erkennen –, die angeblich nicht wissen, wie man parkt, und die alle In-Kneipen verstopfen.
Von der politischen Variante profitieren PDS und CSU: Als Regionalparteien besitzen sie automatisch eine so starke Identität , dass sie auf den nationalen Lagerwahlkampf nicht zwingend angewiesen sind. Ihn machen sie nur mit, solange er nicht riskant wird. Die CSU war stets gegen die radikalen Steuerpläne der Schwesterpartei; und die PDS bleibt nur ein treuer Partner der WASG-Linken, wenn das nicht die eigene Ostigkeit gefährdet.
Die nationalen Parteien besichtigen diese Identitätspolitik neidisch – und sind stets versucht, Deutschland ebenfalls zur Region zu machen, die nur Deutschen gehören soll. Die Grenzen zwischen regionaler und ethnischer Abgrenzung sind fließend.
Doch diesmal spielen die Einwanderer kaum eine Rolle im Wahlkampf. Zwar gibt es das Thema Türkei-EU-Beitritt, aber es verfängt nicht. Eine große Islam- oder Integrationsdebatte kam gar nicht erst auf. Das ist auffällig – und dürfte dem Phänomen Kirchhof zu verdanken sein.
Die großen Parteien können nicht wählen, ob sie einen Lagerwahlkampf führen. Sie sind dazu gezwungen. Sie können nur entscheiden, was den Unterschied markieren soll. Kirchhofs Ernennung garantiert, dass die Auseinandersetzung ökonomisch bleibt und die Einwanderer nicht zum Thema werden. Solange die Konservativen denken, dass es eine wirtschaftspolitische Linke geben muss – solange ist alles gut.