: Wenn die Eisenfeile bis auf die Knochen dringt
PASSIONSGESCHICHTE Erst in der Katastrophe beginnt der Mensch zu handeln: „Das letzte Feuer“ von Dea Loher. Tobias Wellemeyer, neuer Intendant am Hans Otto Theater in Potsdam, hat seine Inszenierung des preisgekrönten Dramas aus Magdeburg mitgebracht
Was für eine Ansammlung von Katastrophen! Jeder Einzelne, der da in eine der grauen Armeedecken gehüllt in dieser ascheüberzogenen Slumlandschaft aus Sperrholz herumsteht, aus deren Ecken es noch leise qualmt, trägt ein monströses Trauma mit sich herum. Irgendwo in dieser abgewrackten Prekariatswüste flimmert ein alter Fernseher, und hinter einer dreckigen Glasfront kauert ein verkrümmter junger Mann namens Olaf (Eddi Irle). Sein Autoklau ist einer der Puzzlesteine, die sich zum Unglückspanorama fügen.
Schon in den ersten lapidaren Sätzen schwingt die Ahnung von diffusem wie kosmischem Leid mit. Irgendwie allerdings scheint erst dieses Leid die erstarrten Katastrophenmenschen hier zum Leben und zum Handeln zu erwecken. Am Ende sind einige aus der Agonie in ein neues Leben entkommen. Nur eine alte Frau wurde ermordet, ein anderer hat sich verbrannt, ist quasi stellvertretend wie Christus für die anderen gestorben. Das letzte Feuer vor der Erlösung? Man weiß es nicht.
Erotische Prothesen
Die Dramatikerin Dea Loher hat in ihrem 2007 am Hamburger Thaliatheater von Andreas Kriegenburg uraufgeführten Drama „Das letzte Feuer“ acht Figuren um den tragischen Unfalltod eines Kindes herum gruppiert und ihre Geschichten höchst virtuos miteinander zu einem Passionsspiel über Leid und Erlösung verwoben. Wobei die Motive mitunter ziemlich dick aufgetragen und manchmal nicht ganz freiwillig auch etwas komisch sind: Eine brustamputierte Krebspatientin, die nun erst die Lust an der Brust entdeckt und am Ende einen Laden für erotische Prothesen eröffnet. Ein traumatisierter Kriegsheimkehrer, der sich täglich mit einer Eisenfeile bis auf die Knochen seine Hände abfeilt, die getötet haben. Ein unscheinbarer Normalo-Mann, der seine alzheimerkranke Mutter in der Badewanne ertränkt und dabei gleichzeitig der Vater des umgekommenen Kindes ist.
Doch machte Dea Loher mit diesem grellen Pathos derartigen Eindruck, dass ihr 2008 für „Das letzte Feuer“ der Mülheimer Dramatikerpreis zuerkannt wurde. Im Oktober des gleichen Jahres kam am Theater Magdeburg auch Tobias Wellemeyers Inszenierung des Stückes heraus. Damals war Wellemeyer noch Magdeburger Intendant. Jetzt leitet er das Potsdamer Hans Otto Theater, wohin die Inszenierung umgezogen ist. Dort allerdings fand die Premiere nun vor erschreckend leeren Sitzreihen des Neuen Theaters statt, was es für die Inszenierung wie für das Publikum nicht gerade einfach macht.
Geschlossenes System
Zwar hat Wellemeyer versucht, die Figuren in ihrer existenziellen Not ernst zu nehmen, das Überzogene an Lohers Motiven dabei gleichzeitig symbolisch zu überhöhen. Allerdings hätte ein bisschen Ironie statt des sturen Watens in Leidensabgründen diesem Abend gutgetan. Einzig Jon-Kaare Koppe erhellt ihn als Peter mit einer ironischen Milieustudie seiner Figur eines schwulen Arbeitslosen, der seine Liebe gerecht zwischen einem Kampfhund und seinem verwahrlosten und koksenden Geliebten Olaf aufteilt.
Als Bild für die zerrissenen Lebensläufe und Identitäten lässt Wellemeyer seine Figuren immer wieder große Presspappen hochhalten, auf die Filmbilder projiziert werden. Doch die fügen sich nie zum geschlossenen Bild. Eigentlich ist das ein schönes Bild für das Versprechen dieses Abends, das geschlossene Leidenssystem, in das Dea Loher ihre Figuren zwingt, auf individuelle Geschichten herunterzubrechen. Ein Versprechen, das der Abend aber nicht einlöst. Er erstickt schließlich an seinem Pathos. ESTHER SLEVOGT