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Archiv-Artikel

Baby, don't hurt me no more

Den grünen OB hat Volker Lösch nur zähneknirschend gewählt. Doch wer den Politprovokateur kennt, weiß, dass Zähneknirschen nicht seine Paradedisziplin ist. Was der Theaterregisseur von seinen Grünen fordert, sagt er hier bei Kontext

von Volker Lösch

Ich habe es wieder getan. Wie so viele Stuttgarterinnen und Stuttgarter der nach wie vor großen S-21-Gegnerschaft: Ich habe vergangenen Sonntag im zweiten Wahlgang grün gewählt. Nicht, weil mich deren Politik überzeugt, sondern weil Fritz Kuhn ohne unsere Stimmen kein OB geworden wäre. Das Amt hätte dann ein Medienunternehmer und Millionär aus Berlin bekommen, für unsere Stadt eine schlicht unzumutbare Option.

Die 52,9 Prozent für die Grünen drehen das Ergebnis der Volksabstimmung vom 27. November 2011 faktisch um. Ebenfalls 52,9 Prozent haben damals in Stuttgart für die Fortsetzung einer Finanzierung von S21 durch das Land votiert. Und mindestens zehn Prozent der Stimmen für Kuhn kommen aus dem Lager derjenigen, die als Tiefbahnhofgegner seit Jahren für eine andere Politik, für eine Reformierung der demokratischen Strukturen öffentlich streiten. Und die die leidvolle Erfahrung gemacht haben, dass die Grünen ihrerseits für diese Politik nicht mehr stehen.

S 21 kritisch begleiten? Keine Spur!

Abermals haben wir die Grünen in eine Machtposition gehievt. Das fiel vielen nicht leicht, denn der grüne Sieg bei der Landtagswahl vom 27. März 2011 wurde von einem großen Teil der Bewegung gegen S 21 als Durchbruch beim Widerstand gegen dieses Großprojekt gefeiert – es war ein Trugschluss. Denn die grün geführte Landesregierung, die plötzlich nichts mehr mit den Kretschmanns, Wölfles und Hermanns zu tun hatte, die in Oppositionszeiten kräftig mitdemonstriert haben, hat mehrere Chancen für ein juristisches und verwaltungsmäßiges Vorgehen gegen S 21 nicht wahrgenommen. Vom vollmundig angekündigten „kritischen Begleiten“ – keine Spur.

Die Geißler-Forderungen aus dem Schlichtungsverfahren wurden von den S-21-Betreibern einfach ignoriert, von der grün geführten Landesregierung kam und kommt dagegen kein Widerstand.

Nur ein paar Punkte: Die Baumfällungen im Schlossgarten ließen sie zu, obwohl grundsätzliche geologische Fragen ungeklärt waren. Verkehrssicherheitsforderungen werden von Betreiberseite unterlaufen, die Grünen schweigen dazu.

Die Brandschutz-Verfehlungen, die letztens prominent begutachtet wurden, sind bereits seit Heiner Geißlers Faktencheck 2010 bis in Details bekannt, Winfried Kretschmann, damals noch Oppositionspolitiker, saß mit dabei. Kritische Töne der Grünen hört man aber erst jetzt, nachdem alle Medien darüber berichten.

Es ist die grün geführte Landesregierung, die die ausführlichen Nachweise des Experten Christoph Engelhardt zum Stresstest-Betrug, dass S 21 von Anfang an (in der Planfeststellung!) auf 32 Züge pro Stunde ausgelegt war, und damit ein nicht genehmigter Rückbau vorliegt, bis heute nicht weiter untersucht. Die grün geführte Regierung hat nie ernsthaft die Leistungsfähigkeit des bestehenden Kopfbahnhofs untersucht, lediglich eine teure Expertise durch Vieregg & Rössler bestätigt, aber keine Konsequenzen daraus gefordert oder gezogen.

Es war diese grün geführte Landesregierung, die den Volksentscheid zu S 21 derart dilettantisch und unzureichend in die Wege leitete, dass damit den S-21-Befürwortern in die Hände gearbeitet wurde. Und es ist bis heute diese grün-rote Landesregierung, die den S-21-Betreibern weitgehend freie Fahrt lässt und zur Durchsetzung von S 21 Polizeischutz bereitstellt bzw. mit polizeilichen Maßnahmen dazu beiträgt, den S-21-Widerstand einzuschüchtern, so geschehen im Fall des ehemaligen Richters Dieter Reicherter.

Grüne Politik: Pragmatismus auf höchstem Niveau

Dieses Politikverständnis kann allerdings diejenigen, die sich ein wenig mit grüner Geschichte beschäftigen, wenig erstaunen. Nach den ersten Jahren ihrer für die politische Kultur der Bundesrepublik eminent wichtigen Zeit spaltet sich die Partei in Fundis und Realos. Fritz Kuhn dachte damals schon öffentlich über schwarz-grüne Bündnisse nach und saß 1992 mit Erwin Teufel zu Sondierungsgesprächen in der Villa Reitzenstein. In der Folge wurden bei den Grünen Tabubrüche bezüglich ihrer Grundüberzeugungen begangen, die erst aus heutiger Sicht beurteilt werden können. Dass Grüne mit der SPD durch die Agenda 2010 einen der größten Niedriglohnsektoren weltweit geschaffen haben, dass Grüne für Steuererleichterungen in Milliardenhöhe für Vermögende, dass Grüne für den ersten Bundeswehrkriegseinsatz nach dem Zweiten Weltkrieg mitverantwortlich sind, ist im öffentlichen Bewusstsein nur wenig präsent.

Grüne Politik heute ist politischer Pragmatismus auf höchstem Niveau. Grün wählen heißt längst nicht mehr Protest wählen. Kuhn kommt mit dem berühmten Adenauer-Slogan „Keine Experimente“ ins Amt. Inzwischen fahren Grünen-Wähler auch mit Porsche Cayennes zu den Wahllokalen, gesehen am Sonntag in der Olgastraße. Fritz Kuhn in einer letzten verzweifelten Dumpfbacken-Kampagne als Autofeind zu brandmarken, zeigt die radikale Ahnungslosigkeit seiner politischen Gegner: Autofahrer aller Marken und Klassen wählen inzwischen grün, nur die CDU hat's noch nicht gemerkt. Aber die hat ja jetzt acht Jahre Zeit, sich draußen in der Welt mal umzuschauen.

Und vielleicht wird ihr dann klar, womit sie ihren Abbau betreibt: Die CDU klammerte sich auch im Vorfeld dieser Wahl an das Tunnelprojekt S 21 und hat damit nun schon die dritte Wahl in Folge verloren (Gemeinderat 2009, Landtagswahl 2011, OB-Wahl 2012). Sie markiert damit den Kurs, den der neue Stuttgarter OB Fritz Kuhn nun einschlagen muss: den Vorwürfen zum Leistungsbetrug bei S 21 nachgehen, denn damit entfällt die Planrechtfertigung für das Projekt. Kuhn muss auch für die Sicherheit der Stuttgarter Bürger sorgen, sei es im Kernerviertel, sei es unter dem abrissgeschädigten Bahnhofsdach.

Mit der OB-Wahl wurde dem neoliberalen Großprojekt Stuttgart 21 weiter der Boden entzogen. Dass S 21 nicht gebaut wird, ist mit dem Wahlsieg von Fritz Kuhn allerdings nicht garantiert. Alle Erfahrungen im Kampf gegen S 21 lehren: Es ist vor allem das Engagement der Bürgerinnen und Bürger vor Ort, es sind die vielfältigen öffentlichen und außerparlamentarischen Aktivitäten, die die Widersprüche, Mängel des Projekts sowie die Täuschungsmanöver aufdecken und die das Projekt immer wieder verzögern und die Chance offenhalten, Stuttgart 21 dahin zu befördern, wo es herkommt: in die Archive der Lobbyisten, Baufirmen und Spekulanten.

Kommt endlich raus aus eurer Macht-Starre!

Der Sieg von Fritz Kuhn ist letztlich das Ergebnis dieses anhaltenden und weiterhin sehr breiten Widerstands. Das erstaunlich hohe Ergebnis des entschiedenen S-21-Gegners Hannes Rockenbauch (SÖS/Die Linke) im ersten OB-Wahlgang mit mehr als zehn Prozent war ein wichtiger Beitrag zum Wahlsieg von Kuhn in der Stichwahl. Und deshalb gilt es nun, die Grünen, gilt es den neuen OB zu fordern:

Lieber Fritz Kuhn! Richten Sie einen städtischen Untersuchungsausschuss zum Schwarzen Donnerstag, dem 30. September 2010 ein, an dem die Polizei im Stuttgarter Schlossgarten gewütet hat! Entschuldigen Sie sich als OB bei den Opfern dieser Katastrophe. Lassen Sie durch Fachbehörden und unabhängige Gutachter die Faktenlage prüfen, denn das hat die Landesregierung verschlafen: zu den Themen Brandschutz, Mineralwasser, Leistungsfähigkeit des Kopfbahnhofes, Stresstestmanipulation, klimatische Gefährdung und vielen weiteren. Lassen Sie die Rechtslage prüfen: Es geht um die Mischfinanzierung, das Bauen ohne komplettes Baurecht für alle Planfeststellungsabschnitte. Machen Sie die neue Faktenlage zum Thema öffentlicher Sitzungen im Gemeinderat! Nutzen sie ihre Öffentlichkeitsarbeit zur Aufklärung der Bevölkerung über die gebrochenen Wahlversprechen der Projektbetreiber zur Volksabstimmung! Und setzen sie den Beschluss des Stuttgarter Gemeinderats um, die Bürger darüber entscheiden zu lassen, ob wir die vielen Mehrkosten, die Stuttgart 21 noch verursachen wird, tragen wollen.

Liebe grün-rote Landesregierung, lieber Winfried Kretschmann: Der vereinbarte Kostendeckel des Projekts S21 ist längst gesprengt. Die Bahn ist vertraglich verpflichtet, das den Partnern klar zu offenbaren, sonst macht sie sich schadenersatzpflichtig. Sie verweist nun auf die sogenannte Sprechklausel. Land und Stadt haben aber gesagt, dass sie nichts mehr zuzahlen. Damit ist die Finanzierung geplatzt und somit die Planrechtfertigung des Gesamtprojekts. Die Brandschutzkonzeption ist lebensgefährlich und nicht genehmigungsfähig. S 21 stellt einen Kapazitätsrückbau dar. Die bisher vier Zugentgleisungen im Vorfeld des Hauptbahnhofs zeigen, dass die Deutsche Bahn AG das Projekt S 21 extrem risikofreudig vorantreibt. Mehr Scheitern geht nicht! Grüne aller Länder: Kommt endlich raus aus Eurer Machtstarre und tut das, wofür ihr gewählt worden seid!

Ein drittes Mal bekommt ihr unsere Stimmen nicht, das steht fest. Das würde euch Grünen die nächste Landtagswahl kosten, auch das ist sicher. Aber eine Chance gibt es noch, und die habt ihr abermals dem Widerstand gegen S 21 zu verdanken!

Wenn man den euphorischen Grünen-Partys vom Sonntagabend nachhört, klingt da noch der Haddaway-Song aus den Anfängen der Neunziger nach, als Grün-Wählen noch aufregend, so etwas wie eine kleine Revolte war, und auf den es sich heute so schön spießig tanzen lässt. Das Lied handelt von enttäuschter Liebe und formuliert drohend eine Erwartung:

I give you my love, but you don't care.

What is love? Baby don,t hurt me,

don’t hurt me, don't hurt me – no more!

(Alexander Nestor Haddaway, 1992)

Volker Lösch, geboren 1963, ist seit 2005 Hausregisseur am Schauspiel Stuttgart. Der Lessing-Preisträger gehört zu den bedeutendsten Theaterregisseuren in Deutschland und zu den prominentesten Unterstützern des Protests gegen Stuttgart 21.