Wenn Strom nicht aus der Steckdose kommt

Vom besten Arbeitsplatz der Welt. Umweltlehrer Jürgen Gisbertz aus Krefeld zeigt Jugendlichen, wie Energie entsteht: Mit Muskelkraft oder Sonnenlicht

Der Klassenraum des Krefelder Umweltzentrums ist eine Gartenlandschaft

AUS KREFELD LUTZ DEBUS

Der solargetriebene Propeller an der Baseballkappe von Jürgen Gisbertz summt. 25 Schülerinnen und Schüler der Grundschule St. Tönis folgen aufmerksam seinem Experiment. Ein Campingkocher erhitzt Wasser in einem kleinen Kessel. Aus einem Röhrchen dringt Dampf, treibt ein Rädchen an. Ein Dynamo setzt sich in Bewegung. Mucksmäuschenstill sind die Kinder. Ein vollelektronisches „Happy Birthday“ erklingt. Ein Lämpchen leuchtet auf. Jürgen Gisbertz macht die Gasflamme aus: „So dürfen wir Strom nicht weiter machen.“

Gisbertz erklärt den Kindern mit einfachen Worten den Treibhauseffekt, die Endlichkeit fossiler Energieträger. Dann lädt er die jungen Besucher zu einem „Tag mit der Sonne“ ein. Dazu teilt er die Klasse in Gruppen ein. Mitgliedsausweise werden verteilt. Die Kinder werden zu Spinnen, Schmetterlingen, Ameisen, Hornissen und Ohrenkneifer. Jedes Tier erhält eine Aufgabe. Die Schmetterlinge suchen im Garten nach Kräutern. Melisse, Minze und Salbei für den Tee. Schnittlauch, Thymian und Zwiebeln für den Quark. Teewasser und Toastbrot werden in Solaröfen bereitet.

Seit 14 Jahren bietet das städtische Umweltzentrum in Krefeld Kindern und Jugendlichen Seminare zum Thema „Energie“ an. Der Klassenraum ist eine Gartenlandschaft in einem Vorort von Krefeld. Bevor es losgeht, müssen die Schüler ihre Bänke und Stühle selbst aus einem Container ziehen und aufbauen. Im Herbst soll zwar ein fester Klassenraum eingeweiht werden. Im Moment jedoch findet der Unterricht unter freiem Himmel statt. 200 Klassen besuchen jährlich das Umweltzentrum. Für Oberschüler gibt es komplizierte wissenschaftliche Experimente, für Grundschüler Staunenswertes wie bei der „Die Sendung mit der Maus“. Dazu kommen Besuche von Kindergärten und Pädagogenfortbildungen.

Die Grundschul-Hornissen strampeln sich also auf einem Fahrrad ab, ein Generator erzeugt Strom. Die 30 Watt für den Muskel-Intercity schafft der stärkste Junge gerade noch. Eine Spielzeugeisenbahn zockelt mühsam über die Gleise. Dann wird umgestöpselt. Die 40-Watt-Birne beginnt nur zu leuchten, weil die Mutter einer Schülerin hilft. Und beim elektrischen Wasserkocher scheitern alle. Die Pedale sind kaum mehr zu bewegen. In der Zwischenzeit brodelt das Teewasser im Zentrum des Parabolspiegels. Die Ohrenkneifer allerdings mussten alle 10 Minuten das Gerät neu ausrichten.

Den Winter nutzt Jürgen Gisbertz zusammen mit dem Leiter des Umweltzentrums, Volker Bahr, neue Programme zu erstellen. Das ist oft knifflig: In jedem Physikbuch, so Gisbertz, gebe es das Beispiel mit der Dampfturbine. Aber niemand stelle dieses in der Realität dar. Monatelang suchten die beiden Männer nach möglichen Komponenten. Das Klangmodul einer Glückwunschkarte war zwar schnell gefunden. Aber der Generator? Fast hätten sie aufgegeben. Alle handelsüblichen Stromerzeuger waren zu schwerfällig. Da bauten sie aus einer Märklin-Lokomotive den Motor aus. Es klappte.

Die Zukunft des Projektes ist ungewiss. Die Stadt Krefeld wird zwar weiterhin das Umweltzentrum unterhalten. Aber Jürgen Gisbertz ist abgeordneter Lehrer. Da muss jedes Schuljahr die Bezirksregierung mitspielen. Ob die etwa 30 Lehrer, die in NRW in Umweltprojekten eingesetzt werden, unter der CDU-Schulministerin Barbara Sommer nicht wieder in die Schule geschickt werden?

Für Jürgen Gisbertz schwer vorstellbar. Zwar unterrichtet der 51-jährige an einem Tag in der Woche an einer ganz normalen Schule, wie er sagt, um die Bodenhaftung nicht zu verlieren. Ansonsten ist er aber zwischen Solarbooten und Drehradios eingesetzt. „Ich habe den besten Arbeitsplatz der Welt!“ E-mail-Anfragen sogar aus Japan zeugen von der Wichtigkeit dieses Projektes.

Die Kinder lassen sich inzwischen ihre Quarktoasts mit Sonnentee schmecken. Wenn der Mund gerade leer ist, fragen sie ihrer Lehrerin Löcher in den Bauch: „Warum haben wir kein Solardach auf unserer Schule?“