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Archiv-Artikel

Tanzen auf Rollen

Alte Liebe (4): Disco-Roller. Die Attraktion der 70er und 80er Jahre wurde in den 90ern von den Inline-Skatern überholt. Doch die Rollschuh-Szene bewegt sich noch. Am Rande der Freizeitindustrie tanzt sie weiter

Es prickelt nicht mehr, aber ganz verschwinden wird sie nie, die alte Liebe. Die taz nord würdigt in einer Serie Freizeit- und Kulturvergnügungen, die dereinst hip waren – und heute auf kleiner Flamme und in veränderter Gestalt weiterköcheln.

„Es ist wie eine Art Religion, wie Geha oder Pelikan, Puma oder Adidas. Ich werde nie eine echte Liebe zu Inline-Skates entwickeln. Sie haben einfach weniger Charme.“ Klare Worte einer Disco-Roller-Aktivistin. Die 37-jährige Kara aus Hannover rollt seit 1982 auf ihren schwarzen Zweiachsern mit dem Stopper an der Schuhspitze. „Mit 11 Jahren sah ich den Film „Xanadu“. Da war klar, dass ich Rollschuh-Disco-Tänzerin werde. Auch inspiriert durch die Namensähnlichkeit mit der Hauptfigur.“

In der Kinoschnulze, gedreht in der Hochzeit der Rollschuhtanz-Ära, flattert Olivia Newton-John als griechische Muse Kira aus einem Wandgemälde, um einen sterblichen Künstler zu inspirieren, groß ins Rollschuh-Disco-Geschäft einzusteigen. Klingt seicht und ist es auch. Der Kinofilm fand keinen Zuspruch, aber die Filmmusik von ELO (Electric Light Orchestra) war ein Erfolg.

Im Gegensatz zu den Kinderrollschuhen, die man einfach unter x-beliebige Schuhe schnallen kann, wurden die Disco-Roller für sportliche Zwecke immer weiter entwickelt. Für ein jetzt neu aufgelegtes Paar muss man – quasi als Investition in die Vergangenheit – 90 Euro bezahlen.

Rollschuhläufer sind anders als Inline-Skater. Hier dreht es sich mehr um Ästhetik, während es bei der Inliner-Fraktion mehr um Geschwindigkeit geht. Die Zweiachser sind einfach wendiger und trickreicher – ihre Heimat ist der Tanz. Und Auslöser ihres Booms war die Disco-Musik. Da die Retro-Welle alle 30 Jahre über uns schwappt, ist in den nächsten Jahren mit einem mittleren Disco-Hochwasser zu rechnen. Rund um den Maschsee, Hannovers Hamsterrad für Rollsportbegeisterte, sieht man wieder Jugendliche, die mit Rollschuhen im Stil der 1980er-Jahre nicht nur einfach um den See rollen, sondern sich zum Üben – sprich: Tanzen – treffen. Wie die früheren Straßentänzer mit weißen Handschuhen und Hosen in den Socken – das verbessert die Aerodynamik – werden akrobatische Bewegungen, Bielmann-Pirouetten in unglaublicher Geschwindigkeit und mutige Sprünge abgeliefert.

Der Rollschuhsport hat auch organisiert überlebt. In Kiel, Lübeck, Hameln oder Göttingen finden sich Vereine für Rollkunstlauf. RollschuhläuferInnen schauen eher betreten auf die Inliner-Inszenierungen, die eine nach der anderen durch die Städte rollen. Wenig zurückhaltend, ausgerichtet auf den Massengeschmack und immer mit dem Ziel, sich auf vier bis sechs Achsen pro Schuh der Existenz und der Zugehörigkeit zur „Szene“ zu vergewissern. Jede Menge „Skates by night“ oder ähnliche Veranstaltungen sind deren Plattformen, die wahre RollschuhfahrerInnen nicht benötigen. Sie rollen in der dezenten Erkenntnis, nicht mehr zu einer Massenbewegung zu gehören, sondern zur Randgruppe der IndividualistInnen. Jörg Heynlein