piwik no script img

Archiv-Artikel

Stressschweiß bei Nacktwahlen

Noch zweimal schlafen: Nachdenkliches und Wissenswertes zur Bundestagswahl

Viele Wähler meinen, sie hätten ihre Stimme bereits am Wahlomat abgegeben

BERLIN taz ■ Nur noch wenige Stunden, dann ist der laue Spuk namens Bundestagswahlkampf vorbei. Am Sonntag endlich wird gewählt. Viele Bürger haben sich längst entschieden: „Ich wähle erst wieder, wenn es um die Laterne geht, an der Schröder baumeln soll“, sagt etwa Prudens Pocher, 52, Stahlbieger aus Saarlouis, während der Bad Bramstedter Beinenthaarer Justus Generotzky, 37, erst dann wieder ein Wahllokal betreten will, „wenn dort über die Wand entschieden wird, an die Herr Schröder gestellt wird“. Hingegen will sich die Leverkusener Schrotthändlerin Jule Aldag, 43, der Qual der Wahl stellen und am Sonntag entweder „Gysi“ oder „Lafontaine“ ihre Stimme geben. Sie wird sich spontan in der Wahlkabine für einen der beiden Linksträger entscheiden.

Das würde Rolf Ammerländer, 48, Außendienstler in der Tischtennisplattenzulieferung, auch gern. Zumal der Bochumer „hundertpro“ weiß, wen er am Sonntag wählen wird: „Schnauze voll!“ Er weiß bis dato allerdings gar nicht, wo sich sein Wahllokal befindet. Das kam bei einer Blitzumfrage der Forschungsgruppe Wahlen heraus, deren einzige Frage „Wo wählen Sie?“ überraschend viele Befragte mit „Weiß nicht“ oder „Da muss ich erst meinen Mann fragen“ beantworteten. „Entschlossene Ortsunkundige“ nennen die Wahlforscher diese Wählergruppe, die größer zu sein scheint als bisher angenommen. Und damit durchaus Zünglein an jener Waage sein könnte, die am Sonntag über „Hüh oder Hüh“ (Franz Müntefering) entscheidet.

Bedenklich groß scheint auch die Zahl der Wähler, die irrtümlich meinen, ihre Stimme bereits abgegeben zu haben. Darunter befinden sich offenbar viele Bürger, die den Wahlomat im Internet für ein Online-Wahllokal und ihr Wahlomatergebnis für ihre Stimmabgabe hielten. So auch Frank Grote, 18, Erstwähler aus Bad Oeynhausen: „Und ich habe mich schon gewundert, dass ich die CDU wähle. Dabei bin ich doch Bundestagskandidat der Grünen.“

In eine ähnlich heikle Wählerfalle ist die 88-jährige Zahnarztwitwe Gudrun Busche-Serengeti aus Böblingen getappt, als sie neulich auf die Frage eines Kellners: „Haben sie schon gewählt?“ antwortete: „Nein, noch nicht! Aber seien sie doch bitte so nett und geben sie meine Erst- und Zweitstimme der FDP.“ Seitdem ist die alte Dame fest davon überzeugt, ihre Stimmabgabe getätigt zu haben. Jetzt weigert sie sich standhaft, „die Wahl zu wiederholen“, wie sie das nennt. Damit kann die FDP das Votum dieser treuen Anhängerin wohl getrost in den Wind schießen.

Große Unsicherheit herrscht einmal mehr bei den Wählern, die sich aus religiösen Gründen nicht in der Lage sehen, ein Kreuz auf ihrem Stimmzettel zu machen. Erdokan Ysal zum Beispiel. Der 33-jährige Polizist aus Iserlohn ist islamischen Glaubens und besteht darauf, die Partei seines Vertrauens („Bibeltreue Christen“) mit einem Halbmond „ankreuzen“ zu dürfen. Damit wäre seine Stimme allerdings ungültig. Selbiges gilt übrigens für die Kennzeichnung aller Erst- und Zweitstimmen durch Hakenkreuze, was nach Ansicht von Experten zur Folge haben dürfte, dass halb Sachsen sowie der Wahlkreis Fulda „in einem nicht unerheblichen Umfang“ ungültig abstimmen werden.

Erstmals seit Gründung der Bundesrepublik finden bei dieser Bundestagswahl auch Nacktwahlen statt. Darauf wies jetzt noch einmal der Bundesverband für Freie Körperkultur (BFKK) hin. Demnach dürfen Nackte nicht mehr wie bisher am Zutritt der Wahllokale gehindert werden, weil das, so die bisherige Rechtsprechung, die Würde des Urnengangs verletze. Das Bundesverfassungsgericht hat das für „Humbug“ erklärt. Gleichwohl bittet der BFKK alle Nacktwähler mit Rücksicht auf das sittliche Empfinden der Wahlhelfer, die Wahlkarte nicht als „Arschkarte“ beizubringen und auch „sonst wahlnotwendige Dokumente wie den Personalausweis“ nicht in der Po-Ritze zu transportieren, wie das Nackte üblicherweise mit wichtigen Papieren tun.

Die engen Wahlkabinen sind für viele Klaustrophobiker auch dieses Jahr der Hauptgrund ihrer unfreiwilligen Wahlenthaltung. Die Forderung des Deutschen Klaustrophobikerverbandes, platzängstlicheren Wählern gefälligst geräumigere Kabinen zur Verfügung zu stellen, wies die Bundeswahlleitung aus Platzgründen zurück. Sie empfiehlt allen Klaustrophobikern die Briefwahl, worüber Jan Molchenstein, Vorsitzender der Anonymen Klaustrophobiker, schier platzen könnte vor Angst: „Schon die Vorstellung, unsere Stimme in einem engen Briefumschlag zu wissen, treibt uns Betroffenen den Stressschweiß auf die Stirn.“

Erstmals hat die Bundeswahlleitung den Wettbewerb „Unser Wahllokal soll schöner werden“ ins Leben gerufen. Die Jury unter Vorsitz von Karl Lagerfeld und Wolfgang Joop wird am Sonntag, kurz nach 18 Uhr, die Sieger verkünden. Mit Sicherheit nicht dabei: das Wahllokal im Hittfelder Ortsteil Helmstorf, das sich im Umkleideraum des örtlichen Feuerwehrhauses befindet und schon bei der letzten Bundestagswahl von einer Kommission unabhängiger internationaler Wahlbeobachter zum „fiesesten Wahlraum Deutschlands“ gewählt wurde. Überall lagen gebrauchte Socken oder Unterhosen der Feuerwehrleute herum. Man kann gespannt sein, wie aufgeräumt es am Sonntag dort aussieht. FRITZ TIETZ