: Anders eben
MIGRANTINNEN Sie leben im Westen, lieben einen West-Mann und sprechen wie Westdeutsche. Aber sie sind anders. Was unterscheidet sie? Ein Essay
VON INES LANGELÜDDECKE
Vielleicht sind wir ja wirklich perfekt assimilierte Migrantinnen, meint W., die wie ich mit einem West-Mann verheiratet ist. Wir leben in Hamburg, München oder Berlin, sagt sie, nur geboren sind wir in der DDR. Vielleicht belügen wir uns auch, sage ich, wenn wir denken, dass wir zu einer Generation gehören, in der es keine Unterschiede zwischen Ost und West mehr gibt. Du solltest unsere Männer fragen, ob wir uns von den West-Frauen unterscheiden, lautet der Ratschlag von W. aus Jena, die im Berliner Westen lebt. Was sagen also die Männer? Tatsächlich, sie finden, dass die Ost-Frauen, die sich in den Westen aufgemacht haben, anders sind als die West-Frauen. Stärker, unabhängiger, mutiger – so sehen die West-Männer ihre Ost-Frauen. Sind sie das?
Exotischer sind sie auf jeden Fall, die jungen Ost-Frauen, anders eben. Sie haben die Loblieder auf den Sozialismus schon in der Grundschule auswendig gelernt, sind als Jungpioniere in einer Reihe zum Fahnenappell marschiert und haben im Sportunterricht den Handgranatenweitwurf eingeübt. Aus dem Westfernsehen kannten sie die Bundesrepublik. So hatten sie sich, ohne dass sie es ahnten, auf das Leben nach 1989 vorbereitet. Egal, wie angepasst, oppositionell oder staatsnah die ostdeutschen Biografien heute erscheinen mögen, das Leben im Westen verlief in anderen Bahnen. Ist es das, was die West-Männer an uns mögen? Wenn die aufstiegsorientierte und exotisch anmutende Ost-Frau auf den etablierten und abenteuerhungrigen West-Mann trifft, vielleicht passen dann die deutsch-deutschen Bedürfnisse ja zusammen.
Schmutziges Geheimnis
Es könnte das schmutzige Geheimnis der deutschen Einheit sein, dass zumindest die jüngeren Ossis glauben, sie wären den Wessis gleich. Dass sich die Wessis aber in Wirklichkeit nur für die Ossis interessieren, weil diese das Versprechen erfüllen sollen, ein wenig Abenteuer in die graue bundesrepublikanische Gegenwart zu zaubern.
Sind die Unterschiede so stark, dass man von bikulturellen Paaren sprechen kann? Nicht nur Ost-West-Ehen, sondern alle Konstellationen, wo der Osten auf den Westen trifft, wären damit eine bikulturelle Angelegenheit. Darf man sogar von Migranten sprechen, wenn man Ostdeutsche im Westen meint? Es scheint einen Konsens zu geben, der von beiden Seiten getragen wird: Die Ossis wollen nicht stigmatisiert werden und empfinden es als eine Unverschämtheit, zu den türkischen oder russlanddeutschen Submilieus geschoben zu werden. Sie beharren darauf, dieselbe Sprache zu sprechen und zu derselben Kultur zu gehören wie die Westdeutschen, aber dennoch würden die allermeisten von ihnen ein Anderssein für sich reklamieren, das aus ihrer Geschichte in der DDR resultiert, selbst wenn diese nicht besonders lang war. Auch im Westen würde kaum jemand die politische Inkorrektheit begehen und die Ostdeutschen Migranten nennen, denn daraus ließe sich folgern, man hätte sich 1990 mit einem Volk von Fremden vereinigt. Die deutsche Einheit wäre dann nicht der Zustand, auf den die historische Entwicklung zwangsläufig zulief, sondern eher ein Zufall, ein Fremdgehen mit Folgen.
Trotzdem: Selbst wenn es nicht den äußeren Anschein hat, gibt es sie, die jungen und gut ausgebildeten Ostdeutschen im Westen, die sich wie Migranten verhalten. Sie werden häufig angetrieben von Ambition, aber oft auch geplagt von Selbstzweifel, ob sie sich für den richtigen Weg im neuen System entschieden haben. Die jungen aufstiegsorientierten Migranten aus dem Osten müssen sich ein eigenes Leben aufbauen, meist ohne ererbte Sicherheiten, materiell wie emotional. Das macht sie pragmatischer und risikofreudiger. Sie haben womöglich sogar das Potenzial, ihr Umfeld im Westen stärker zu beeinflussen, als es Westdeutsche selbst tun. Aber sind sie womöglich auch absturzgefährdeter als die abgesicherte Erbengeneration aus dem Westen? Ein Dekadenzproblem haben sie jedenfalls nicht, wenn sie sich und ihrer Umgebung etwas beweisen wollen, wenn sie schon die nächste unterbewertete Immobilie im Berliner Umland kaufen und sanieren, während die Generation Golf noch im Prenzlauer Berg ihren Latte macchiato trinkt und überlegt, was sie mit ihrem Leben anfangen soll.
Gut gelernt haben die ostdeutschen Migranten die äußerliche Anpassung an das neue Land. Dort provozierte ihre Herkunft in den ersten Jahren nach der Wende unterschiedliche Reaktionen: von erwartungsvollem Interesse („Erzähl doch mal, wie das bei euch da drüben war …“) über betretenes Schweigen bis hin zu spürbarer Herabsetzung. Und so haben sie sich angewöhnt, unerkannt zu bleiben. Sich anzupassen bedeutete mehr, als nur den sächsischen Dialekt abzulegen. Es hieß vor allem, so zu tun, als hätte man immer dazugehört und könnte so souverän über Ulrike Meinhof und Willy Brandt reden wie alle anderen hier.
Gerade die Jüngeren hatten wenig Schwierigkeiten damit, ihre Herkunft unsichtbar zu machen, sichtbar bleiben sie meist nur für diejenigen, die diesen Weg auch gegangen sind. Wenn sich Ossis in der Fremde gegenseitig enttarnt haben, dann reden sie manchmal darüber, welchen Preis sie für ihren Erfolg gezahlt haben. Migrantengeschichten sind immer auch Verlustgeschichten, in diesem Fall mit einer Besonderheit: Noch ehe die Westwanderer das Land ihrer Kindheit verlassen konnten, hat das Land ihrer Kindheit sie verlassen. Die DDR gibt es nicht mehr. Weiter geht’s nur noch nach vorn. Da ist es nicht verwunderlich, wenn häufig eine unausgesprochene Melancholie die Aufstiegsgeschichten der perfekt assimilierten Migranten aus dem Osten begleitet. Je größer der Abstand zur eigenen Herkunft wurde, umso größer wurde bei manchem die Scham darüber, selbst den Absprung geschafft zu haben.
Ostdeutsch sein, das war lange Zeit ein Stigma, wenn auch eines, über das die Ossis manchmal selbst lachen können: so wie über Zonen-Gaby, die 1989 auf dem legendären Titanic-Cover überglücklich eine Gurke zeigte, die sie für eine Banane hielt.
Sogar Angela Merkel hat manchen Zonen-Witz von Westlern aushalten müssen. Aber sie ist in der Politik aufgestiegen und hat sich, so würde man es rückblickend wohl beschreiben können, den kühlen analytischen Blick bewahrt, der sie den Sozialismus unter Erich Honecker, die Gesetze der Physik, den Umbruch nach 1989 und auch die CDU unter Helmut Kohl durchschauen ließ. Dieser Blick von außen, den sie so meisterhaft beherrscht wie verschleiert, hat dazu beigetragen, dass sie zum zweiten Mal zur Bundeskanzlerin gewählt wurde.
Sehnsuchtsort des Westens
Zugleich mit ihrer Wiederwahl und dem pausenlosen öffentlichen Gedenken an 1989 hat auch das westdeutsche Bildungsbürgertum den Osten als Sehnsuchtsort entdeckt: In Potsdam soll noch etwas vom kulturellen Geist Preußens zu spüren sein, der Stadt Dresden werden ähnlich mythische Qualitäten zugeschrieben. Dazu tragen die wiederaufgebaute Frauenkirche bei, der Kult um den DDR-Roman „Der Turm“ von Uwe Tellkamp oder das Engagement des Star-Dirigenten Christian Thielemann, der demnächst von München an die Dresdner Semperoper wechseln wird. Die Aufwertung des Ostdeutschen in der öffentlichen Wahrnehmung ist unübersehbar.
Inzwischen wagt es auch Angela Merkel immer mal wieder, ihr Ostdeutschsein vorsichtig als Anderssein zu thematisieren, zum Beispiel wenn sie daran erinnert, dass die Ostdeutschen nach 1989/90 schon eine Wirtschaftskrise gemeistert hätten und mit diesem Erfahrungsvorsprung in die derzeitige Krise gehen. Vielleicht beginnen darum manche der Migranten aus dem Osten zu sprechen: über ihre durchgerüttelten Biografien, erst in der erstarrten Welt des Staatssozialismus und später in der Hyper-Beschleunigung der Umbruchszeit. Sie wollen längst kein Mitleid mehr für ihr Leben mit Erich Honecker, sie erwarten lediglich Respekt für ihre Geschichte, die anders ist, wenn auch genauso deutsch wie das bundesrepublikanische Wirtschaftswunder oder die RAF. Und sie ahnen wohl, dass ihre Ost-Geschichte zur Stärke wird.
Weil die Migranten aus dem Osten den Systemwechsel erlebt haben, blicken sie vielleicht mit einer größeren Tiefenschärfe auf das Land, in dem sie jetzt leben. Ob sie damit gleich den Westen verändern so wie Angela Merkel die CDU, die sie moderner und aufgeschlossener für weibliche Karrierewege gemacht hat, ist noch nicht ausgemacht. Sie sind immerhin mit ihrem eigenen sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg und der kulturellen Assimilation beschäftigt. Aber eines bringen sie doch mit in den Westen. Sich selbst – und damit eine Grundhaltung der Offenheit gegenüber der eigenen Zukunft, die mehr neue Optionen sieht als alte Sicherheit.
Heißt Ostdeutschsein heute also Anderssein – oder bedeutet es in Zukunft bloß noch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten regionalen Identität, wenn auch mit einer anderen Geschichte als die der westdeutschen Regionen? So ungefähr versteht das meine fünfjährige Tochter, die danach gefragt, woher sie kommt, eine doppelte Herkunft für sich beansprucht: Zur einen Hälfte komme ich aus Bayern und zur anderen Hälfte aus der „Republik“, wobei sie der Einfachheit halber auf das „Deutsche Demokratische“ verzichtet. Diese zwei Identitäten liegen für sie gar nicht so weit auseinander. Bei den Großeltern im Westen gibt es Schweinsbraten und Zwetschgendatschi, so selbstverständlich wie bei den Großeltern im Osten die Pflaumen im Garten wachsen und die Hühner auf dem Hof herumlaufen. Gleichzeitig weiß meine Tochter, dass ihre Familie aus zwei verschiedenen deutschen Ländern kommt: Die einen wohnten gut bewacht hinter dem Grenzzaun, während die anderen reisten, wohin sie wollten, und sogar für einige Jahre im Ausland lebten. Die Kinder heute balancieren leichtfüßiger als ihre Großeltern und vielleicht noch als ihre Eltern über diese Gräben zwischen Ost und West, so wie das vielleicht nur Kinder können.
■ Ines Langelüddecke, Jahrgang 1976, ist freie Autorin und promoviert zu Ost-West-Geschichte. Aufgewachsen in einem Dorf 200 Meter hinter der Grenze zur Bundesrepublik, lebt sie heute bei Hamburg