Auf Schatzsuche in Döberitz

Wo einst die Preußen das Fliegen lernten und Hermann Göring seine Luftwaffe aufbaute, entstand unter militärischem Schrott ein Biotop, in dem sich über 600 Pflanzen- und 150 Vogelarten ausbreiteten

VON KAI BIERMANN

Die Heide döst in der Sonne. Vögel lärmen, die Schnellstraße rauscht und Hummeln saufen die Blüten leer. Die weißen Flecken am Waldrand sind Schafe und der herbe Geruch kommt von Kräutern und Blumen, mit denen die Wiese gerammelt voll ist. Es ist August und ich schaue mir die Idylle an.

Zwei Jahre lang habe ich mich mit der Döberitzer Heide und mit dem Ort, der ihr den Namen gab, beschäftigt. Ich habe Dutzende Bücher gelesen, in Archiven gesessen, mit Zeitzeugen geredet und in jeder freien Minute versucht, einen Teil der Geschichte dieser Gegend aufzuschreiben. Und alles nur, weil mir ein älterer Herr begegnet ist, der mich an meinen Großvater erinnerte. Nun ja, fast alles.

Aber von vorn: Ich begegnete der Döberitzer Heide zum ersten Mal im März 1998. Es war sehr früh an einem Montagmorgen, es war kalt. Ich war Volontär für die Berliner Zeitung und sollte einen Artikel über ein neues Projekt schreiben.

Wegen des dichten Nebels brauchte ich eine Weile, bis ich den richtigen Eingang zu dem abgesperrten Areal gefunden hatte. Aus dem Dunst tauchten schließlich zwei Zelte und ein paar Gestalten in Overalls auf. Sie gehörten zu einer kleinen Gruppe von Mitarbeitern eines Munitionsbergungsdienstes, der damals mit der riesigen Aufgabe begann, einen ersten Wander- und Reitweg anzulegen, auf dem Spaziergänger das Gelände sicher betreten konnten. Denn die Heide war zwar eine Müllkippe voll gefährlichen Schrotts, doch wollte der 1997 gegründete Naturverein Döberitzer Heide gerade dieses Gebiet für den Tourismus nutzbar machen.

Trotz oder gerade wegen der militärischen Nutzung hatte sich die Heide zu einem Naturparadies entwickelt. In den vergangenen Jahrzehnten waren viele Tiere und Pflanzen heimisch geworden, die sich vom Lärm der Waffen nicht hatten beunruhigen lassen. In dieser letzten zusammenhängenden grünen Fläche am Stadtrand Berlins fanden Wissenschaftler Moore, Feuchtwiesen oder Trockenrasenlandschaften. Seeadler, Brachpieper, Fischotter, Ziegenmelder, Röhrenspinne, Knoblauchkröte, Glanz-Wiesenraute, Sumpfknabenkraut – bisher insgesamt mehr als sechshundert Pflanzen- und hundertfünfzig Vogelarten. Viele davon galten als stark bedroht oder waren zu diesem Zeitpunkt in den anderen Teilen Deutschlands längst ausgerottet.

Dass das gesamte Gelände vor gefährlichen Blindgängern und Munitionsresten nur so wimmelte, wurde zum Vorteil, waren doch bis jetzt nur selten Spaziergänger auf die Idee gekommen, über die ehemaligen Schießplätze zu streunen oder tiefer ins Unterholz einzudringen.

Mit bloßem Auge war zu dieser Zeit der im hohen Gras verborgene tödliche Schrott nicht zu erkennen, nur die alten Panzerwege galten als halbwegs sicher. Einen halben Tag lang schaute ich an diesem Märzmorgen zu, wie die Männer des Munitionsbergungsdienstes damit begannen, die Wege zu räumen. Alle paar Schritte mussten sie stehen bleiben, ständig piepten die Metallsuchgeräte. Immer mehr Patronen, Granaten und Minenteile, aber auch Draht, Blechbüchsen und Uniformknöpfe sammelten sich in ihren Eimern. Zwölf Kilometer lang sollte der erste Wanderweg entlang der Bundesstraße 5 werden und es schien mir, als würden sie dafür ewig brauchen.

Schon zu DDR-Zeiten hatten einzelne Naturschützer den Schatz der Gegend entdeckt. Die ausgedehnten Schilfröhrichtgürtel des Ferbitzer Bruchs hatten Vogelkundler aus Nauen und Potsdam neugierig auf das gesperrte Gebiet gemacht. Verbotenerweise stiegen sie über die Abgrenzungszäune, um sich in der Heide umzuschauen. Als ihnen der ökologische Wert bewusst wurde, begannen sie, mit der Sowjetarmee – die das Areal seit dem Krieg nutzte – zu verhandeln. Sie wollten die seltenen Biotope sichern. Und tatsächlich: Die Militärs ließen sich auf Zugeständnisse ein.

So wurde im Ferbitzer Bruch ein erstes Naturschutzgebiet eingerichtet. Zwar war es kein offizielles und von staatlichem Recht geschütztes Gebiet, doch respektierten es die sowjetischen Einheiten. Nach deren Abzug begann eine kleine Gruppe Naturschützer, sich des Ganzen anzunehmen. Sie gründeten einen Verein und verhandelten mit dem neuen Besitzer, dem Land Brandenburg.

Zwei Naturschutzgebiete wurden anerkannt: der Ferbitzer Bruch südlich von Priort und die Döberitzer Heide. Damit standen 3.500 Hektar und fast das gesamte unbebaute Gebiet unter Schutz. Ab 1995 begann man, ein Konzept zu erarbeiten, um das Gelände dauerhaft zu sichern und touristisch zu nutzen. Eine komplette Beseitigung der Kampfmittel schied von vornherein aus. Zu groß war das Gebiet, zu belastet der Boden und viel zu teuer eine solche Aktion. Es ging darum, die Natur zu schützen und sie gleichzeitig zumindest teilweise zugänglich zu machen. Einige Flächen und ein Netz von Wanderwegen sollte von Kampfmittelräumern abgesucht und sicher gemacht werden. 1998 nahm dann der Munitionsbergungsdienst seine Arbeit auf.

In den folgenden anderthalb Jahren schrieb ich immer wieder Artikel über die Heide und ihre bunte Geschichte.

Im Jahr 2002 – ich hatte die Heide völlig vergessen – machte ich gemeinsam mit meiner Mutter ein Buch über Mütter und Söhne für den Ch. Links Verlag. Der Verleger, Christoph Links, fragte mich anschließend, ob ich nicht noch mehr Bücher schreiben wollte. Ich hatte ihm mal von meinem Faible für Geschichte und Geschichten erzählt und er meinte, er kenne jemanden, der viele solcher Geschichten zu erzählen habe, jedoch nicht wisse, wie er sie aufschreiben solle.

Im Oktober 2003 stellte er mich besagtem Erhard Cielewicz vor. Der war zu diesem Zeitpunkt 71 Jahre alt, ich 31. Wir verstanden uns auf Anhieb. Er war klein und wirkte, obwohl reichlich rund, unglaublich agil. Er erinnerte mich an meinen gerade mal 1,65 Meter großen Großvater, der auch nie stillsitzen konnte und immer etwas zu tun haben musste. Ich weiß nicht, ob ich für ihn, der nie Kinder hatte, auch wie eine Art Enkel wirkte. Doch zumindest schien er sich gerne mit mir über die Vergangenheit zu unterhalten.

Erhard Cielewicz stand beim Bau und beim Abriss der Berliner Mauer – die, da ich in Ost-Berlin aufwuchs, mein Leben bestimmte – als Soldat am Checkpoint Charlie. Auf der anderen Seite. Er war amerikanischer Berufssoldat und Teil des Kalten Krieges, der meine Kindheit prägte. In den zwei Jahren, die wir gemeinsam an dem Buch arbeiteten, lernte ich so nebenbei viel über das Kriegsende in Berlin, die Luftbrücke oder eben die Mauer und damit auch über meine Geschichte. Mit ihm zu reden gab mir die Chance, sie zu verstehen.

Zwei Jahre lang fahndeten wir also gemeinsam nach Neuem über den Flugplatz Döberitz.

Ihn interessierte an dem Buch die Technik – seit seiner Kindheit ist die Fliegerei sein Hobby und er war in der Nähe des damaligen Flugplatzes aufgewachsen. Ich wollte etwas über die Schicksale erfahren, die Hintergründe und Zusammenhänge. Ganz nebenbei lernte ich viel über die Vergangenheit, über das Kriegsende in Berlin, die Luftbrücke oder den Mauerbau. Erhard Cielewicz konnte mir vieles aus der Geschichte berichten.

Döberitz war einst ein kleines Dorf in der märkischen Landschaft westlich von Berlin, verschlafen und zurückgezogen. Das blieb es viele hundert Jahre lang, bis das preußische Militär 1894 auf die Gegend aufmerksam wurde und aus den Feldern und Wäldern einen der größten Truppenübungsplätze des ganzen Deutschen Reiches machte. Als Ergebnis dessen verschwand das Dorf vollständig. Übrig blieben nur eine munitionsverseuchte Heide und die Geschichte – ein weißer Fleck auf der Karte, auf den zeigen kann, wer sagen will, da, dort fing alles an.

Denn Döberitz war auch der Name des Flugplatzes, auf dem 1910 die ersten Piloten im Auftrag des preußischen Militärs das Fliegen lernten. Dort haben deutsche Militärs begonnen, den Himmel zu erobern, was letztlich mit dazu beitrug, dass aus Kriegen so genannte moderne Kriege wurden – die sich von den aus der Mode gekommenen vor allem dadurch unterscheiden, dass sie noch schrecklicher sind.

An diesem heute nicht mehr zu findenden Ort haben militärische Größen wie Manfred von Richthofen, Max Immelmann und Oswald Boelcke ihr kriegerisches Handwerk gelernt, mit dem sie später berüchtigt wurden. Dort war der erste Militärflugplatz des Deutschen Reiches, dort wurde geforscht, um immer schnellere und tödlichere Flugzeuge zu bauen, und dort ist die Wiege der deutschen militärischen Luftfahrt.

Die Führer des Dritten Reichs machten sich Döberitz’ Ruf zunutze, als sie ihrerseits daran gingen, einen Luftkrieg zu planen. Nur wenige Jahre war es über der Heide ruhig geblieben, dann flogen wieder militärische Flugzeuge. Anfangs getarnt als Reklamestaffel, bald jedoch offen und unter einem ebenfalls bekannten Namen als Jagdgeschwader Richthofen. Es wurde zur Keimzelle vieler weiterer Geschwader und eines großen Teils der Luftwaffe Hermann Görings, mit der er seinem Führer die Welt unterwerfen wollte.

Dass Döberitz zweimal der Ursprung einer solch unseligen Entwicklung der deutschen Geschichte war, ist ein wenig in Vergessenheit geraten, weil der einstige Fliegerhorst im Norden der Heide seit den Fünfzigerjahren nicht mehr existiert.

KAI BIERMANN, 33, lebt als freier Autor in Berlin. Das zusammen mit Erhard Cielewicz verfasste Buch „Flugplatz Döberitz – Geburtsort der militärischen Luftfahrt in Deutschland“ ist in dieser Woche beim Ch. Links Verlag (Berlin, 200 Seiten, 24,90 Euro) erschienen