Spürbares Bewegtsein

Die Sprache der Liebe und die Schonungslosigkeit von Literatur: Uwe Timm erzählt in seinem neuen Buch „Der Freund und der Fremde“ von seiner Freundschaft zu Benno Ohnesorg und von sich selbst

VON GERRIT BARTELS

Es muss eine merkwürdige Freundschaft gewesen sein, die Uwe Timm und Benno Ohnesorg geführt haben. Ganze zwei Jahre hat sie gedauert, von 1961 bis 1963, zwei Jahre, die beide das Kolleg in Braunschweig besuchten, um hier auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nachzuholen. Was sie ausschließlich zu verbinden schien, war die Liebe zur Literatur und der dringende Wunsch, zu schreiben. Sie sprechen viel über Albert Camus’ Roman „Der Fremde“ und Homers „Odyssee“, über Ovids „Metamorphosen“ und Nietzsches „Menschliches, Allzumenschliches“, über Mallarmé, Rimbaud, Verlaine und Apollinaire; sie gründen eine literarische Zeitschrift namens teils-teils, von der jedoch nur eine Ausgabe erscheint, und sie lesen sich gegenseitig ihr Geschriebenes vor, Gedichte, erste Prosa.

Merkwürdig sind die Kürze der Freundschaft, ihre Begründung allein durch die Literatur, insbesondere aber die Abruptheit, mit der sie endet: Uwe Timm lässt nach dem Ende der Kollegzeit nichts mehr von sich hören. Statt wie geplant mit Ohnesorg nach Berlin zu gehen, beginnt er in München zu studieren, gemäß dem literarischen Vorbild der „indifference“, dem fernen, fremden und bindungslosen Dasein, das Camus’ Figur Mersault aus „Der Fremde“ so vorbildlich verkörpert. Timm begründet das abrupte Ende der Freundschaft mit Ohnesorg damit, dass das „Ich, das ich war, glaubte seine Unabhängigkeit durch die Verweigerung von Dauer und fester Bindung in der Liebe zu finden, die, wie erst später deutlich wurde, auch ihn, den Freund, betraf (…)“.

Übersetzt in das Leben, zeigt sich die Literatur hier von ihrer schonungslosesten Seite, und so dürften nicht zuletzt zarte Schuldgefühle der Anlass dafür gewesen sein, dass Timm jetzt mit „Der Freund und der Fremde“ ein Buch über sich und seine Freundschaft zu Ohnesorg geschrieben hat. Den Gedanken aber, den trug er lange mit sich herum, seit dem gewaltsamen Tod Ohnesorgs am 2. Juni 1967 bei der Anti-Schah-Demonstration in Berlin. Mehrmals hatte er den Vorsatz gehabt, über Ohnesorg zu schreiben, hatte er sich Notizen und Aufzeichnungen gemacht, eine Form gesucht, doch musste Timm erst erkennen, dass das Erzählen über den Freund nur gelingen konnte, „wenn ich auch über mich erzählte“.

Genau das macht Uwe Timm nun in seinem Buch ausgiebig: die Zeit, in der er als ausgebildeter Kürschner nach dem Tod des Vaters das elterliche Pelzgeschäft übernimmt, sein Studium in München, ein Aufenthalt in Paris mitsamt einer Liebesgeschichte, die erste Begegnung mit seiner Frau, alle diese Lebensabschnitte von Uwe Timm nehmen in dem schmalen Buch genauso viel, wenn nicht mehr Raum ein wie die Zeit in Braunschweig und die Beschreibung der Freundschaft.

Folglich gelingt es Timm nur bedingt, ein komplexes, in die Tiefe gehenderes Bild von Ohnesorg zu zeichnen: zu kurz kannten sich beide, als dass sich da mehr als ein zwar entschlossener, aber auch zurückhaltend verschlossener junger Mann zeigt; ein junger Mann „von einer zarten Empfindsamkeit, einem spürbaren Bewegtsein“, der aus kleinen Verhältnissen stammend einen großen Bildungshunger hat und unbedingt schreiben will. Zu kurz ist Ohnesorgs Leben überhaupt, als dass sich schon große Lebenswidersprüche hätten auftun können, geschweige denn, dass sich da wenigstens in Spuren ein Werk angedeutet hätte. Berühmt geworden ist Ohnesorg allein durch seinen Tod: ein Märtyrer without attitude, ein Zufallsopfer, das zur Chiffre für die 68er-Bewegung werden sollte.

Timm bemüht sich, Licht in das Leben von Ohnesorg nach dessen Zeit in Braunschweig zu bringen; er spricht mit dessen Sohn, mit einer Freundin des Ehepaars Benno und Christa Ohnesorg (die 1999 verstarb), mit den Mitbewohnern ihrer Berliner Wohngemeinschaft, mit der Frau, die Ohnesorg am Todestag sofort zu Hilfe kam, und er steht auch vor dem Haus des Todesschützen, des Polizisten Kurras, ohne zu klingeln. Doch viel heraus bekommt er nicht, es bleibt beim Spekulieren, und zumindest vom Schreiben hat Ohnesorg sich wieder abgewandt, oder er hat es, wie Timm es formuliert, vor den anderen “verschlossen“.

Je schemenhafter Ohnesorg erscheint, umso kräftiger treten Werdegang und Leben von Uwe Timm zutage und umso mehr wird offenbar, dass dieses Buch die Fortsetzung von Timms Autobiografie ist: Den Anfang machten Ende der Achtzigerjahre die biografisch noch frei flottierenden „Römischen Aufzeichnungen“, denen 2003 das erfolgreiche Familienbuch „Am Beispiel meines Bruders“ folgte; „Der Freund und der Fremde“ schließt an Letzteres zeitlich nahtlos an, auch stilistisch mit vielen kleinen und lose aufeinander folgenden Erzähleinheiten, und Benno Ohnesorg übernimmt darin quasi die Rolle des im Krieg gefallenen, bei der Waffen-SS dienenden und nie wirklich gekannten älteren Bruders Timms. Ein Requiem wieder und wieder eins, mittels dessen Timm sein eigenes Leben, das „des Fremden“, wie er sich selbst einmal für diesen Lebensabschnitt nennt, und dessen Verlauf umso klarer und intensiver beschreiben und erkennen kann.

Bewundernswert ist erneut die Sensibilität, mit der Timm vorgeht, die Sanftheit, mit der er beider Biografien umkreist und sie letztlich immer wieder kunstvoll verknüpft; und schön kontrapunktisch dazu ist einerseits die konsequente Herausstellung der literarischen Camus-Figur Mersault, der eigentlichen dritten Hauptfigur dieses Buches, und andererseits die Entschlossenheit, mit der Timm wiederum die Entwicklung von der Begeisterung für Camus’ Fremden bis hin zum gemeinsamen Protest aufzuzeigen gewillt ist, von der praktischen Umsetzung des Existenzialismus zum explizit Politischen seiner Generation. Es folgt die Zeit der rigiden Organisation in Zirkeln, Gruppen, Parteien, die dem zukünftigen und eleganten Erzähler und Geschichtenerfinder, der nichtsdestotrotz in seinen Büchern immer wieder auf seine politischen Erfahrungen und Haltungen zurückkommt, bald suspekt wird: „Das Bemühen, das Unterdrückende, das Beschneidende in allen Lebensbereichen aufzudecken und zu benennen, erzeugte seinerseits wiederum ein repressives Verhalten gegenüber jeglicher Abweichung.“

So ist es nur konsequent, dass am Ende dieses Buches die Leerstellen in Ohnesorgs Leben noch einmal markiert werden, Timm Fragen stellt, die nicht mehr beantwortet werden können – er aber gleichzeitig das Hohelied auf die Liebe singt, die sich bei ihm im Frühjahr 1969 entwickelt, auf die Sprache der Liebe, „erhellt durch die Sprache gemeinsamer Lektüre“. Da schließt sich ein Kreis, da zeichnet sich ein Lebensmuster ab, und da erkennt jemand, wie selten es ist, wenn Literatur wirklich Freundschaften zu stiften vermag und wie wertvoll und voller Verheißungen diese Beziehungen sind.

Uwe Timm: „Der Freund und der Fremde“, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005, 160 Seiten, 16,90 €