: Die Leiden der Lisa I.
Sie gilt als eines der größten Talente im deutschen Turnsport: Beim Berlin Masters in der Rhythmischen Sportgymnastik bewies dies Lisa Ingildeeva erneut. Das Leben der 16-Jährigen richtet sich allein nach ihrem Sport – dabei ist sie seit drei Jahren verletzt
VON ANDREAS RÜTTENAUER
Sie hat trainiert beinahe bis zur letzten Minute vor dem Wettkampf. Lisa Ingildeeva, Deutschlands bester Sportgymnastin, geht es derzeit relativ gut: Der Arzt hat sie gesund geschrieben für die Berlin Masters in der Rhythmischen Sportgymnastik, und so konnte die junge Frau nach langer Zeit wieder einmal einen Wettkampf turnen. Richtig gesund ist sie allerdings nicht. „Natürlich konnte ich mich nicht gut vorbereiten“, sagte sie vor ihrer ersten Übung, „ich habe immer noch Probleme mit meiner Hüfte.“ Dennoch turnte sie einen ordentlichen Mehrkampf mit Seil, Ball, Keulen und Band.
Mit der Weltelite der Gymnastinnen, die in Berlin beinahe komplett am Start war, konnte sie zwar nicht mithalten. Dennoch war sie am Ende zufrieden über ihren 17. Platz im Mehrkampf. Denn sie hat die WM-Norm geschafft. In zwei Wochen finden in Baku die Weltmeisterschaften statt. Wenn alles gut geht, wird sie dabei sein. Die Hüfte sollte nicht allzu weh tun, der Arzt muss mitspielen und ihr wieder ein Unbedenklichkeitszeugnis ausstellen.
Seit drei Jahren ist Ingildeeva nun schon verletzt. Das ist nicht gerade wenig für eine 16-Jährige. Schon in süßen Alter von 13 Jahren hat sie an internationalen Wettkämpfen teilgenommen – als Mädchen, das noch lange nicht ausgewachsen war. Bereits damals war sie eine der besten deutschen Gymnastinnen. Im vergangenen Jahr war Ingildeeva die einzige Sportgymnastin, die für Deutschland bei Olympia über die Matte geturnt ist. Und auch bei der WM in zwei Wochen wird sie die einzige deutsche Starterin sein.
Lisa Ingildeevas Leben ist bestimmt von der Rhythmischen Sportgymnastik. Vor zehn Jahren kam sie mit ihrer Familie von Moskau nach Berlin. Schon damals turnte sie. Bald galt sie als großes Talent. Sie trainierte mit den besten Trainerinnen der Hauptstadt. Doch die waren schnell nicht mehr gut genug für sie.
Mit zehn Jahren musste Lisa umziehen, nach Baden-Württemberg, wo sie beim TSV Schmiden von Bundestrainerin Galina Krylenko übernommen wurde. Die Mutter, die ihre Tochter immer schon angetrieben hatte, zog mit der Tochter in den Süden der Republik. Der Vater blieb in Berlin. Noch heute ist die Familie getrennt. Während Papa Ingildeev in Berlin arbeitet, werkelt Lisa mit Unterstützung ihrer Mutter an der großen Gymnastikkarriere.
Das große Ziel des eleganten Mädchens ist die Olympiateilnahme 2008. Dafür wird sie ihren Körper weiter malträtieren. Und selbst wenn sie in China eine Medaille gewinnen sollte, wird sie doch nie so populär werden wie es die Gymnastinnen aus der Ukraine und Russland in ihren Heimatländern sind. Natalja Gudenko, die Europameisterin dieses Jahres mit dem Band, berichtete davon, wie sehr es ihr doch gefalle, in ihrer Heimatstadt bisweilen auf der Straße erkannt zu werden.
Ingildeeva steht, ein wenig verschwitzt noch von den letzten Trainingseinheiten, vor den Pressevertretern und spricht von Schweiß und Fleiß. Und von der bittersten Enttäuschung in ihrer Karriere. Nachdem Lisa Ingildeeva bei den Deutschen Meisterschaften im Mai den Titel gewonnen hatte, rechnete sie fest mit einer Nominierung für die Europameisterschaft. Doch Chefbundestrainerin Livia Medilanski erklärte die Leistungen aller deutschen Gymnastinnen kurzerhand für nicht vorzeigbar. „Ja, da war ich schon sauer“, erzählt Ingildeeva. Da taucht die Bundestrainerin neben ihr auf. „Was heißt sauer“, korrigiert sie sich, „ich hatte ja auch kaum trainieren können. Meine Leistungen waren dementsprechend.“ In strengem Ton wendet sich die Bundestrainerin an sie und fordert sie auf, am folgenden Tag zur Eröffnung einer Turntalentschule in Berlin zu erscheinen: „Das wäre sehr schön.“ „Ja, natürlich“, erwidert die Angesprochene und macht so etwas wie einen Miniknicks vor der gestrengen Trainerin.
In der Max-Schmeling-Halle treffen derweil die ersten Zuschauer ein. Bald schon erklingt Musik, die ersten Vorträge werden beklatscht. Auch Lisa Ingildeeva lächelt, während sie turnt. Alles sieht so leicht aus. Lisa ist 16 Jahre jung – und seit drei Jahren verletzt.