Lieber zwei Kanzler als keinen

Jenseits taktischer Spiele ist klar: Es wird eine große Koalition geben. Doch weder SPD noch Union haben die Wahl gewonnen – die beiden müssen sich auf Augenhöhe treffen

Union und SPD schauen nun in die Schubladen – und finden dort zwei gemeinsame Projekte

Das alte, übersichtliche Parteiensystem der Bundesrepublik existiert seit vorgestern nicht mehr. Es gibt weder eine strukturelle rote-grüne noch eine schwarze-gelbe Mehrheit. Das ist kein Zufall, kein Lapsus – es ist die politische Zukunft. Wenn die Linkspartei sich, wofür viel spricht, etabliert, dann gibt es in dieser Republik eine neue politische Statik. In historischen Ausnahmefällen mögen Rot-Grün oder Schwarz-Gelb noch eigene Mehrheiten hinter sich scharen können – aber nur dann. 1998 war so eine Ausnahme, weil die Deutschen unbedingt Kohl loswerden wollten. 2002 war eine Ausnahme, weil Flut und Irakkrieg der PDS ein albtraumhaft mieses Timing bescherten. Nun haben im Westen fast fünf Prozent Linkspartei gewählt.

Das ist kein Irrtum, den eine etwas gewieftere SPD demnächst korrigieren kann. Die Existenz einer linkssozialdemokratischen Partei ist das logische Echo auf die Agenda 2010. Die SPD hat unter Schröder einen Teil ihrer Klientel, den gewerkschaftlich orientierten Teil ihres linken Flügels, an die Linkspartei verloren – so wie sie unter Helmut Schmidt das postmateriell gestimmte Jungbürgertum an die Grünen verloren hat. Beides scheinen unumkehrbare historische Prozesse zu sein.

Diese Wahl hat eine klare Botschaft. Im Bürgerblock haben sich die Gewichte dramatisch Richtung der neoliberalen FDP verschoben. Dafür ist Angela Merkel verantwortlich. Auf der Linken hat eine achsensymmetrische Verschiebung stattgefunden: Die Schröder-SPD hat verloren, die Linkspartei gewonnen. Die Botschaft ist somit eindeutig: Die Gesellschaft radikalisiert sich im Kampf um den bundesdeutschen Sozialstaat. Die einen favorisieren einen angelsächsischen Kapitalismus mit schrumpfendem Staat, in dem working poor achselzuckend zur Kenntnis genommen wird, die anderen beschwören den starken Sozialstaat und einen etatistischen Keynesianismus. Es wird ungemütlicher in dieser Republik. Die sozialen Konflikte werden klarer und härter, die politischen auch.

Und jetzt? Die Ampel hat Guido Westerwelle, dankenswert klar, schon mal abgeschaltet. Schwarz-Gelb-Grün ist ebenso unmöglich. Die Grünen haben respektable acht Prozent als Oppositionspartei gewonnen. Nur ein Drittel der grünen Klientel ist für Schwarz-Grün empfänglich. Ganz zu schweigen davon, dass die Grünen es nicht nur mit der Union zu tun hätten, sondern mit dem neoliberalen Kampfbund Merkel/Westerwelle. Alle Reden über Ampel, Rot-Rot-Grün oder Schwarz-Gelb-Grün sind Nebelkerzen, die gezündet werden, um den Gegner zu verunsichern. Danach werden die wesentlichen Fragen verhandelt. Wer regiert in der großen Koalition? Und: Kann sie sinnvoll Politik machen?

Gerhard Schröder wirkte vorgestern Abend im Fernsehen wie ein durchgeknallter Machiavellist, der offen ließ, ob er noch Akteur eines kalten Machtspiels ist oder schon dessen Opfer. Er will auf Biegen und Brechen Kanzler bleiben. Deshalb behauptet die SPD, sie wäre die stärkste Partei, weil CDU und CSU getrennt zu betrachten seien. Dieses Argument streift hart den Rand des Lächerlichen.

Und doch gibt es – jenseits von Schröders Affektiertheit und den wackeligen argumentativen Stützrädern der SPD – einen realpolitischen Kern: Die SPD will nicht Juniorpartner in einer großen Koalition werden. Und damit hat sie Recht. Denn Union und SPD sind fast gleich stark (vielmehr: schwach). Sie liegen kein Prozent auseinander. 1966 trennten sie mehr als acht Prozent. Damals war die SPD Juniorpartner. Heute liegen die Dinge anders: Eine große Koalition wird es nur geben, wenn sich Union und SPD auf Augenhöhe treffen – und dies auch in der Machtsymbolik zum Ausdruck kommt.

Schröder scheint dabei auf Merkels Schwäche zu hoffen. In seinem Machttraum putscht Edmund Stoiber (oder Christian Wulff oder Roland Koch) gegen die wankende Angela Merkel – um Vizekanzler unter Schröder zu werden. Das wird ein Wunschtraum bleiben. Und selbst wenn es so käme, wäre es nutzlos. Denn dies wäre eine Demütigung der Union. Die große Koalition wird aber nur funktionieren, wenn sie sich für beide Parteien rechnet – und keine die Macht mit einer Unterwerfungsgeste bezahlen muss.

Die große Koalition ist ein Risiko, gewiss. Die Fliehkräfte in die Lager von FDP und Linkspartei sind stark. Diese Koalition kann nur funktionieren, wenn SPD und Union ihre Schützengräben verlassen und die Union sich besinnt, dass sie eine Volkspartei ist, keine neoliberale Avantgarde. Dann kann die große Koalition mehr als eine Notlösung sein. Schon bisher wird Deutschland faktisch seit zehn Jahren von einer ganz großen Koalition regiert. In den 90ern bremste die SPD via Bundesrat die Kohl-Regierung, seit der rot-grünen Niederlage in Hessen 1999 tut Schwarz-Gelb das Gleiche mit Rot-Grün. Alle wesentlichen innenpolitischen Reformen der letzten Jahre haben SPD und Union untereinander ausgehandelt. Welchen Schaden nimmt die Demokratie, wenn dies nun gleich in der Regierung geschieht? Dort haben SPD und Union eher ein Interesse, eine Lösung zu finden, als in dem ewigen Spiel „Bundesrat gegen Regierung“, das auf Blockade programmiert ist.

Inhaltlich sind SPD und Union nicht so weit voneinander entfernt, wie es scheint. Wenn der Wahlkampfrauch sich verzogen hat, werden sie einen Blick in die Schubladen werfen – und dort wenigstens zwei gemeinsame Projekte finden. Zum einen die längst überfällige, an machtpolitischen Kleinkariertheiten gescheiterte Föderalismusreform und den von Steinbrück und Koch avisierten Subventionsabbau, der zu einer moderaten Steuervereinfachung erweitert werden kann. Das wäre der Anfang – und schon mehr, als Schröder mit Rot-Grün gegen die Bundesrat-Blockade der Union hätte durchsetzen können.

Die Republik wird ungemütlich. Die sozialen Konflikte werden klarer und härter

Rational spricht also viel für Rot-Schwarz. Doch machtpolitisch droht die gegenseitige Totalblockade. Die SPD akzeptiert Merkels Führungsanspruch nicht, die Union ist fassungslos, mit welcher Arroganz Schröder beharrt, eine Art natural born chancellor zu sein. Beide haben damit irgendwie Recht. Deshalb werden sie einen Kompromiss finden müssen, damit zusammenkommt, was zusammenpasst. Wenn „Merkel oder Schröder“ nicht geht, sollten sie es mit „Merkel und Schröder“ versuchen. Für einen Wechsel nach zwei Jahren gibt es Vorbilder. Etwa Wim Duisenberg und Jean Trichet an der Spitze der Europäischen Zentralbank. Oder die Koalition von Likud und Arbeitspartei im Israel der 80er-Jahre, in der erst Schamir und dann Peres Ministerpräsidenten waren.

Das Modell job-sharing stößt auf viel Skepsis. So etwas gab es seit 1949 noch nicht in Deutschland. Es ging in der deutschen Politik immer höchst geordnet zu. Alles was ungewöhnlich klingt, muss da als Überforderung erscheinen. Aber die Zeit, als die Wähler ordentlich und verlässlich für ein Lager votiert haben, ist vorbei.

STEFAN REINECKE