: Rasender Holofernes
DAS SCHLAGLOCH von KLAUS KREIMEIER
„Ich bin der Glanzpunkt der Natur, noch hab’ ich keine Schlacht verloren“, lässt Johann Nestroy seinen Holofernes sagen. „Ich möcht’ mich einmal mit mir selbst zusammenhetzen, nur um zu sehen, wer der Stärkere ist: ich oder ich.“
Das könnte nach einer Bundestagswahl in Deutschland gesprochen sein. Verlierer fast überall, doch alle Beteiligten haben an Bedeutung drei Zentner zugenommen. Und mindestens vier Zentner der abgewählte Bundeskanzler.
Was haben wir nur mit dieser Wahl angerichtet? So fragt sich der eine oder andere frustrierte Wähler. Es ist so weit gekommen, dass ein ziemlich stark gerupftes Hühnchen aus dem nördlichen Vorpommern und ein gebeutelter, doch noch immer stolzgeschwellter Gockel aus Niedersachsen uns nun einen richtig fetzigen Machtkampf nach dem Wahlkampf vorführen wollen. Keine erfreulichen Aussichten für die Fernsehabende, die da kommen werden.
Ein halbes Jahrhundert währte der Zivilisierungsprozess der Deutschen, ein mühevoller, oftmals steiniger, insgesamt jedoch erfolgreich bestandener Weg. Das Wahlergebnis zeigt, dass die Bevölkerung nachzudenken gelernt hat – auch wenn die Politiker mit dem Ergebnis vorerst nichts anfangen können. Um so erstaunlicher, dass bei uns noch immer der polternde Kraftmeier, vorzugsweise mit „Raubtiergebiss“, auch in der politischen Niederlage Punkte machen und die Bewunderung eines treuherzig-subordinationsbereiten Publikums einheimsen kann.
Wenn jemand nur feste an der Tür zum Kanzleramt rüttelt, bis er krachend reinmarschiert, danach sechs Minister verbraucht und seine halbe Partei zertrümmert, schließlich die Verfassung beugt, um sein Scheitern zu verbrämen, und nach verlorener Wahl im Fernsehstudio randaliert, weil ihn nicht alle zum haushohen Sieger erklären wollen – dann brandet bei uns noch immer Applaus auf: Potztausend, das ist doch ein ganzer Kerl! Achtundvierzig Prozent hielten ihn noch am Montag für den geeigneten Kanzler.
Wer den feixenden Grobian, den wir am Sonntag in der „Elefantenrunde“ erlebten, mit seiner Herkunft aus der deutschen Arbeiterklasse entschuldigt, muss seinen Verstand bei der Lektüre proletarisch-revolutionärer Romane verloren haben. Und ihn einen „Machiavellisten“ zu nennen, läuft schlichtweg auf eine Beleidigung Machiavellis hinaus. Kaum vorstellbar, dass die Kommentatoren, die in dieses Etikett so verliebt sind, je eine Schrift des politischen Theoretikers gelesen haben. Sonst wüssten sie zwischen der mit Florett und kühlem Verstand zelebrierten Diplomatie in den italienischen Stadtstaaten des 15. Jahrhunderts und dem autokratischen Gedröhn des abgewählten Bundeskanzlers zu unterscheiden.
Ist Schröder am Sonntag einfach nur aus der Rolle – oder nicht vielmehr in diese hinein gefallen? „In der Psychologie nannte man das, als man noch in solchen Kategorien dachte, einen destruktiven Charakter“, kommentiert die Berliner Zeitung den denkwürdigen Auftritt. Rücksichtsloser Umgang mit Opponenten heißt heute „Machtinstinkt“, der Poker mit der Verfassung wird „Risikofreude“ genannt. Und wenn einer, der vor Schadenfreude darüber, dass es die anderen auch nicht geschafft haben, buchstäblich aus den Nähten platzt, kann er noch mit prasselnden Ovationen seiner örtlich betäubten Parteifreunde rechnen. Das „Rauschhafte“ dieses Charakters feierten am Montag prompt einige Kommentatoren. Journalistenpoesie ist gefragt, wenn ein destruktiver Typ, siehe Nestroy, nur noch sich selbst herausfordern – und sich selbst zerstören kann.
„Medienmacht und Medienmanipulation“ hätten es darauf angelegt, seinen Triumph zu verhindern – so brüllte er die verdutzten Teilnehmer der „Elefantenrunde“ an, als sei nun endlich die Zeit gekommen, Springer zu enteignen. Was mag in diesen „Medienkanzler“ gefahren sein, wenn nicht ein Trieb zur Selbstdestruktion vor laufenden Kameras und sieben Millionen Zuschauern? Was so sanft „Medienschelte“ genannt wird, geriet zum Harakiri eines abgewählten Kanzlers, der doch genau wissen müsste, dass er den Kameras und Mikrofonen, einer Unzahl pflichtschuldigst rotierender Redakteure und einer Heerschar von Kabelträgern die Höhepunkte seiner Karriere verdankt. Freilich auch seinem naturgegebenen Talent, die Medien eben so zu manipulieren, wie er sich von ihnen manipuliert wähnt.
Allerdings: Sein Ausbruch gab eine Wahrheit über die Verklammerung von politischer Maschinerie und Medienapparat preis. Eine sehr simple Wahrheit, die täglich zu besichtigen ist und dennoch als Geheimnis gehandelt wird. Wenn Krisen auftreten oder gar die Macht verloren geht, haben die Medien und die Demoskopen Schuld – basta. Peer Steinbrück beschwerte sich am Montagabend bei „Beckmann“, dass in der Welt „auf dem Höhepunkt des Wahlkampfs“ doch tatsächlich ein Kommentar gegen Rot-Grün erschienen sei.
Was für eine Vorstellung haben diese Herrschaften vom demokratischen Diskurs, vom Pluralismus der Meinungen, von der Pressefreiheit und vom unvermeidlicherweise kakofonischen Pro und Contra in einer funktionierenden Demokratie? Reporter, Leitartikler, Interviewer, Bildregisseure, Kameraleute und Maskenbildner: Sie sind, so sehen es die politischen Leithammel, nichts anderes als Laufburschen, die dem jeweiligen Winkelzug der Parteitaktik zu dienen haben. Gäbe es eine Goldene Palme für wackeren Journalismus, gebührte sie Nikolaus Brender vom ZDF, der am Ende der entsetzlichen Show den Bundeskanzler – „Ich nenne Sie jetzt mal nur Herr Schröder“ – zurechtwies und sich seine Pöbeleien schlicht verbat.
„Die Medien“, allen voran das Fernsehen, haben uns während des Wahlkampfs mit exzellenter Unterhaltung versorgt. „Duelle“, „Dreikämpfe“ – was wollen wir mehr? Wir können uns nicht beklagen, allenfalls über Redundanz. Was die Journalisten „covering“ nennen: die Bearbeitung sämtlicher nur erdenklicher „Sachthemen“ nebst fürsorglicher Belagerung der zuständigen politischen Figuren – all dies hat ernüchternd reibungslos geklappt.
Ernüchternd deswegen, weil sich auch zeigte, dass die Strippenzieher der Medien – ob sie nun Brender, Christiansen, Illner oder Roth heißen – längst zum Stammpersonal des politischen Marionettentheaters gehören. Wir wurden pausenlos informiert und, gleichzeitig, auf das subtilste desinformiert. Kein Wunder, dass das nachdenkliche Wahlvolk am Ende besonders gründlich nachgedacht und sich für eine fast unlösbare Situation entschieden hat.
Vielleicht war Schröders Black-out eine Sternstunde – nicht nur des Fernsehens, sondern auch der Politik. Und auch die Starre, die nun eingetreten ist, kann nützlich sein. Das Volk kann noch einmal in Ruhe über seinen geborstenen Kanzler nachdenken. Wer es in seiner Partei gut mit ihm meint, kann versuchen, ihn behutsam aus seinem Wahn herauszuholen und ihn Schritt für Schritt politisch zu entsorgen. Und der rasende Holofernes selbst kann, ganz privat und aller Ämter ledig, vor den Spiegel treten und sich noch einmal fragen, wer der Stärkere war: „Ich oder ich?“