Die Verausgabung

Anarchist im Musentempel: Eine Ausstellung im Düsseldorfer Museum Kunst Palast will Antonin Artaud zu einem postumen Auftritt verhelfen

VON MICHAEL EGGERS

Gleich der erste Anblick geht buchstäblich unter die Haut. Am Eingang zur Düsseldorfer Ausstellung „Antonin Artaud – ein inszeniertes Leben“ erwartet den Besucher das Röntgenfoto der Wirbelsäule des Künstlers, gekrümmt durch die zahlreichen Elektroschocks, die er während seiner Aufenthalte in der Psychiatrie erlitt. Während man noch im Halbdunkel vor der unkommentierten Aufnahme steht und die seltsam verrenkte anatomische Form zur Kenntnis nimmt, wird man von links bereits heftig angeschrien. Artaud selbst erhebt die Stimme – und wie! Von einer Leinwand herunter fixiert er die Kamera, Schweißperlen auf dem Gesicht, hinter ihm flackert ein elektrischer Strahlenkranz. Er brüllt einen kaum verständlichen Text über die Apokalypse mit einer Energie, die Zorn zu nennen verharmlosend wäre.

Es handelt sich um Probeaufnahmen zu Abel Gance’ frühem Tonfilm „La fin du monde“ von 1931. Artaud war für die Hauptrolle im Gespräch, die der Regisseur dann selbst übernahm. Die Ausschnitte legen ein beeindruckendes Zeugnis von der physischen und psychischen Verausgabung ab, die Artauds gesamtes künstlerisches Schaffen prägte. Das Weltenende, das er in dieser Aufnahme verkündet, nimmt die dunklen Prophezeiungen und Verwünschungen vorweg, die er während seiner letzten zehn Leidensjahre gegen die gesamte Menschheit richten wird.

Die Szene ist eine von 22 Filmausschnitten, die den Schwerpunkt der Düsseldorfer Ausstellung bilden. Zum ersten Mal sind sämtliche Filmauftritte Artauds im Vergleich zu sehen. Kennt man ihn vorrangig als Vordenker des postdramatischen Theaters, so ist seine Tätigkeit als Filmschauspieler weitgehend in Vergessenheit geraten. Wie auch die Filme selbst. Nur wenige haben ins Kinogedächtnis Eingang gefunden, so etwa Carl Theodor Dreyers „La Passion de Jeanne d’Arc“ oder Fritz Langs „Liliom“. Den meisten anderen war schon zu ihrer Zeit kein Erfolg beschieden. Dennoch konnten sie alle aufgespürt werden, und Artauds zumeist kurze Auftritte werden nun auf frei im Raum hängenden Projektionsflächen gezeigt.

Das verschafft ihm eine ungewöhnliche Präsenz im Ausstellungssaal. Genau darum ging es den Machern wohl: dem Künstler selbst zu einem postumen Auftritt zu verhelfen, die von ihm selbst immer wieder beschworene Direktheit und Intensität der Darstellung noch einmal ins Leben zu rufen. Konsequent werden daher nur die allernötigsten Daten und Fakten dokumentiert, den gezeigten Objekten bleibt es überlassen, für sich selbst zu sprechen. Ob das aber ausgerechnet mit dem filmischen Material gelingt, bleibt fraglich. Man mag Artauds Spiel eine große Konzentriertheit und Spannung bescheinigen, im szenischen Kontext auf der Leinwand hebt es sich dennoch kaum aus dem gestischen und mimischen Leinwandrepertoire seiner Zeit heraus. Nicht umsonst kehrt er in den Dreißigerjahren dem Medium Film den Rücken, zumal das Aufkommen des Tonfilms dem narrativen Realismus den Weg ebnet, der seinen künstlerischen Intentionen zuwiderläuft.

Neben den Filmen werden Artauds Zeichnungen in den Vordergrund gerückt. Auch hier soll den Ausdrucksmitteln des Meisters so getreu wie möglich nachgespürt werden; unter den rund dreißig ausgewählten Blättern bilden die Selbstbildnisse den Grundstock. Am eindringlichsten sind die von ferne an Giacometti erinnernden Porträts von 1947, am rätselhaftesten die verschlüsselten, hieroglyphischen Anordnungen von Schriftfetzen, Körperumrissen und geometrischen Figuren, die unmittelbar zuvor, in den Jahren seiner Internierung, entstanden. Die Bilder selbst verbieten es, Artaud zu den zeichnerischen Großtalenten der Kunstgeschichte zu rechnen. Aber um technische Meisterschaft geht es nicht. Artauds Glaube an die transformierende, magische Kraft seiner Werke speist sich aus einer untrennbaren Verbindung von Kunst und Leben. Artauds beharrlicher, lebenslanger Versuch, Kunst zu einer eigenen, konventionelle Grenzen überschreitenden Wirklichkeit zu machen, lässt die Bedeutung dieser Zeichnungen erahnen. Das Projekt hat nicht nur seine gesamten Lebensenergien aufgesaugt, sondern ihn aus dem zermürbenden Zwiespalt zwischen punktueller künstlerischer Anerkennung und der Abschiebung in den Wahnsinn nicht mehr entlassen.

Artaud selbst hat sein Schaffen ausführlich kommentiert. Man vermisst diese Texte, die den Zugang zu seinem Werk erleichtern und das Gewicht der Ausstellungsstücke verdeutlichen würden. Die Geschichte der musealen Präsentation von Artauds Zeichnungen, die bereits kurz vor seinem Tod beginnt, war schon immer prekär. Sie ist geprägt von seinem existenziellen Kampf gegen die Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft, der ihn zur Galionsfigur antikapitalistischer und antipsychiatrischer Bewegungen gemacht hat. Die Eingliederung dieser aus einem einsamen, anarchischen Protest geborenen Kunst ins Museum ist eine Gratwanderung – Jacques Derrida hat das anlässlich der Ausstellung der Zeichnungen im New Yorker Museum of Modern Art 1996 ausführlich reflektiert.

Im „museum kunst palast“, einer Public-Private-Partnership, soll der Spagat durch das unkonventionelle Konzept einer „Montrage“ gelingen, die auf Chronologie und Begleittexte weitgehend verzichtet und stattdessen auf die „multilabyrinthische“ Inszenierung setzt. Die desolate Zeit in den Hospitälern wird in einem abgegrenzten, mit authentischen medizinischen Instrumenten ausstaffierten Raum angedeutet. Von den Epoche machenden Theaterexperimenten erfährt man hingegen fast nichts. Kurator Jean-Jacques Lebel schlägt ganz im Tonfall der 60er-Jahre vor, dass man auf dem Weg einer „halluzinatorischen Wahrnehmung“ nachvollziehen solle, wie Artaud die kapitalistische Organisation und die Marktgesetze „fröhlich ignoriert“ habe. Der Katalog, in dem man das nachlesen kann, liegt in stilvoll gestalteten Leseecken aus, die unübersehbar rot beschriftet sind als „reading points – powered by e.on“.

Bis 16. Oktober, Katalog 24,50 €