Geteilte deutsche Wirklichkeit
Wann immer Neuliberale den Sozialstaat attackieren, operieren sie mit dem Begriff der „Wirklichkeit“. Der Sozialstaat ist der Traum, mehr noch: die pure Illusion bequemer, verwöhnter, risikoängstlicher Menschen. Die Realität dagegen ist die eisige Konkurrenz des Wettbewerbs, die erbarmungslose Herausforderung des globalen Arbeitsmarktes, der rüde Ansturm vorwärts drängender Nationen. Nur wenn die Deutschen sich der Realität stellen, also länger arbeiten, weniger verdienen, für Medikamente und Rentenversicherung selbst aufkommen, wenn sie ihre Ansprüche gegenüber dem Staat aufgeben, sich von überlieferten Besitzständen lösen, dann – und allein dann – hat das Land noch eine Chance, in der harten Wirklichkeit der hochmobilen Wissensgesellschaften zu überleben. So lautet das Mantra unserer Reformkardinäle. Und daher klagen sie seit dem Wahlsonntag larmoyant darüber, dass die törichten Deutschen wieder nicht in der „Wirklichkeit“ angekommen seien.
Kurzum: Die „Wirklichkeit“ ist ein außerordentlich legitimitätsheischender Begriff für straffe Marktreformer. Denn wer sich auf die „Wirklichkeit“ beruft, reklamiert für sich die unleugbaren Fakten, die unstrittige Empirie, ja die absolute Wahrheit. Selbst ist man nüchterner Realist, der andere aber – der die „Wirklichkeit“ partout nicht sehen will – lebt demgegenüber in einer Welt von Illusionen und Verdrängungen. Die „Wirklichkeit“ hat etwas Gebieterisches; sie verlangt folgsame Anerkennung, nicht Diskussion oder Erörterung. Der „Wirklichkeit“ hat man sich zu fügen, ihrer inneren Logik ist kompromisslos zu folgen. Sie setzt die Gegebenheiten, sie ist alternativlos und dadurch vernünftig, ja: Sie ist zwingend. Die „Wirklichkeit“ war und ist – kurzum – die stärkste diskursive Waffe neuliberaler Reformer in dieser Welt, um eine Realität zu desavouieren, die ihnen nicht gefällt und um eine „Zukunft“ zu formen, die sodann als einzig wirklich und damit herrisch absolut gesetzt wird.
Doch ist die Wirklichkeit natürlich eine höchst ambivalente Sache. Die Realität der einen entspricht keineswegs der Realität der anderen. Was die einen begeistert, werden die anderen beklagen. Denn natürlich leben wir nicht in einer sozial und normativ unstrittigen „Realität“. Unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen und unterschiedlichen Lebensgeschichten nehmen Wirklichkeit different wahr. Wirklichkeit wird subjektiv gedeutet, durch Kommunikation und Normen konstruiert und durch die Filter handfester Interessen zu einem Machtfaktor gerade in demokratischen Gesellschaften. Wer die Hegemonie über die Interpretation von „Wirklichkeit“ innehat, besitzt unzweifelhaft einen Vorsprung im politischen Wettbewerb. Die Deregulierung von Märkten, die Entstrukturierung von Institutionen, der Verzicht auf Steuerungskompetenzen des Staates – all das war nie ungebrochen Folge von ökonomischen Handlungszwängen. All dies war Konsequenz von politischer bzw. wirtschaftswissenschaftlicher Deutungsmacht, von Einflüssen und Einflüsterungen gut organisierter und vernetzter Think Tanks, natürlich auch von medialen Meinungsführern.
Die heutige „Wirklichkeit“ der Wissensgesellschaft eröffnet unzweifelhaft zahlreiche neue Chancen, aufregende Perspektiven, erlebnisreiche Räume, Erweiterungen, Optionen – für diejenigen, die über Bildung, Wissen, Kompetenz, Kontakte verfügen. Zwar hat die Destrukturierung von konventionellen Erwerbsbiografien auch die Berufs- und Aufstiegsaussichten von Akademikern instabiler gemacht, zwar leidet auch die „Generation Praktikum“ derzeit an den Unwägbarkeiten des Übergangs von der Universität in eine vergleichbar fest kalkulierbare berufliche Anstellung, doch insgesamt sind diejenigen mit akademischem Zertifikat die großen Gewinner der deregulierten Gesellschaft. Wissen, so bilanzieren es nüchtern etliche soziologische Befunde, beschleunigt und vertieft die Polarisierung in der Gesellschaft.
Und Polarisierung ist überhaupt der Begriff, mit dem man in den nächsten Jahren, wahrscheinlich Jahrzehnten die postindustrielle Gesellschaft beschreiben wird. In der spätindustriellen Gesellschaft hatten die Polaritäten noch deutlich abgenommen. Die Schichten nivellierten sich zwar nicht, aber die Spannung zwischen ihnen wurde sozialstaatlich eingehegt, die großen Differenzen gemildert, Ungleichheiten stärker reduziert. Doch nun kehren die klassischen Ungleichheitsmerkmale, nämlich Bildung und Herkunft, signifikant zurück. Die binnenzentrierten Sozialhomogenitäten und Abschließungstendenzen nehmen wieder erheblich zu, während über Jahrzehnte Öffnung und Durchlässigkeit gewachsen waren. Die Deutschen verlieben sich wieder innerhalb der eigenen Sozialschicht, sie heiraten und wohnen im eigenen Milieu. Noch berühren sich in Deutschland zwar die städtischen Viertel unterschiedlicher sozialkultureller Struktur, aber ihre Einwohnerschaften mischen sich kaum noch. Die Segregation des urbanen Raums schreitet massiv voran. In den einen Stadtquartieren wächst der Wohlstand, nehmen Lebens- und Freizeitqualität zu, während andere Stadtteile verwahrlosen, abrutschen, veröden und vergammeln.
Die Republik birgt, was schon überwunden zu sein schien: die Gleichzeitigkeit des Ungleichen, eine höchst brisante Spannung also für den Zusammenhalt einer Gesellschaft. Der fühl- und sichtbare Gegensatz von Winnern und Losern ist in Deutschland des Jahres 2005 jedenfalls größer und elementarer als im Jahr 1995 oder 1985 oder 1975 oder 1965. Die einen kaufen bei Aldi, die anderen im italienischen Feinkostgeschäft. Die einen besorgen sich billige T-Shirts bei C&A, die anderen zeigen sich nur mit Designergarnituren aus der Boutique oder vom Herrenausstatter. Die einen nächtigen in noblen 5-Sterne-Hotels rund um den Globus, die anderen machen es sich notgedrungen auf dem eigenen Balkon oder einem nahe gelegenen Campingplatz gemütlich.
Schreibt man dies alles auf, dann spürt man etwas unbehaglich, wie klischeeisiert dergleichen klingt. Doch dann schaut man noch einmal in die Erhebungen von Jugendforschungsinstituten und bekommt prägnant zu lesen, dass Kinder aus den niedrigen Schichten der deutschen Bevölkerung faktisch über keinerlei Erfahrungen mit Ausflügen, Reisen, Radtouren verfügen. Ihre gleichaltrigen Kohortenzugehörigen aus den bürgerlichen Quartieren haben dagegen die Welt schon weitläufig gesehen, haben Sprachkurse im Ausland absolviert, sind über Schüleraustauschprogramme in die USA gereist und dergleichen mehr. Erreicht der nächste ökonomische Aufschwungszyklus auch die deutsche Volkswirtschaft, dann wird diese enorme Wohlstands- und Erlebniskluft, die sich seit den 1980er-Jahren gesellschaftlich sukzessive herausgebildet hat, noch eklatanter deutlich. Das erfolgreiche wissensgesellschaftliche Bürgertum, das sich in der wirtschaftlichen Depression der letzten Jahre konsumtiv verhältnismäßig zurückgehalten hat, wird seine Wohlstandsmehrung sehr wahrscheinlich dann selbstbewusst und vielleicht auch ein bisschen neureich-protzig in der Öffentlichkeit inszenieren. Die Bildungsarmen hingegen werden gerade in dieser Situation ihre Devianz, ihre Randständigkeit, ihren Status als Entbehrliche und Überflüssige noch weit stärker und bitterer empfinden.
So könnte also man die zweite Wirklichkeit in diesem Land beschreiben. Natürlich hat die erste, die neuliberale „Wirklichkeit“, die zweite, die sozialbeschädigte „Wirklichkeit“, mitgeformt. Die Antisozialstaatlichkeit der neuliberalen Wirklichkeitsinterpreten hat nach zwei Jahrzehnten der diskursiven Hegemonie nicht nur zu einer in Teilen fraglos wünschenswerten Deregulierung von verknöcherten Bürokratien und zu einem löblichen Anstieg selbstverantwortlicher Individualität geführt, sondern auch zu einer Durchlöcherung sozialstaatlicher Normen – wie Fairness, Ausgleich, Integration, Verknüpfung, Zusammenhalt, Solidarität – und zu einer Destruktion sozialstaatlicher, klassenintegrierender, Kohäsion stiftender Institutionen. Die neuen zivilgesellschaftlichen Selbstorganisationen sind demgegenüber weit mehr gruppenbezogen, mittelschichtlastig; sie greifen nicht nach unten, verschränken die heterogenen Gruppen nicht mehr in vertikaler Dimension, wie es die alte Sozialstaatlichkeit noch als zentrale Maxime verfolgte. Insofern führt die neuliberale „Wirklichkeit“ nicht nur zur befreienden Individualität, sondern – je weiter gesellschaftlich nach unten reichend, desto stärker – auch zu einer negativen Individualisierung. Im „neuen Unten“ bleiben die Einzelnen für sich, netzwerkunfähig, handlungsgehemmt, vereinsamt und ungehört. Sie stören dadurch die Gesellschaft nicht mehr, bereichern und befruchten sie aber auch nicht, wie einst noch die sozialistisch-proletarischen Gegenkulturen.
Die neue „Wirklichkeit“ ist tribalistischer als die alte wohlfahrtsstaatliche Vergangenheit. Die Brücken zwischen den Gruppen sind brüchiger, die Dialoge von oben nach unten verdünnen sich. Die Entwicklung verläuft keineswegs zu flacheren Hierarchien, sondern zu einer massiven Zentralisation von Entscheidungen und Macht. In Zeiten der dynamischen Beschleunigung von Informationsvermittlung, Datenübertragung, Finanztransfers etc. besteht die Zeit für ausführliche Diskussionen, für Pluralismus-orientierte Abwägungen, für Transparenz nicht mehr. Ebendas macht die neuliberale Interpretationsvariante von „Wirklichkeit“ so wichtig für die Handlungslegitimation der Globalisierungseliten. Denn in dieser ihrer „Wirklichkeit“ ist nicht nur keine Zeit für Dialog und Diskurs von Entscheidungen, sondern es gibt auch keinen Bedarf danach, da es sich dabei lediglich um den Vollzug von ökonomischen Sachzwängen, unabweislichen Notwendigkeiten, unzweifelhaften Alternativlosigkeiten handelt. Man muss angesichts dieser Entwicklung, natürlich, nicht so weit gehen wie Richard Sennett, der von einer „weichen Spielart des Faschismus“ spricht. Auch muss man nicht Noam Chomsky folgen, der eine „moderne Form des Totalitarismus“ zu erkennen meint. Ebenfalls braucht man sich nicht uneingeschränkt an die Seite von Frithjof Bergmann stellen, der den Begriff der „Tyrannei“ verwendet. Aber mit Ralf Dahrendorf den „Diebstahl von Teilhaberechten“ beklagen oder mit Peter Graf Kielmannsegg sich über den „schwerwiegenden Substanzverlust des demokratischen Modus des Regierens“ zu sorgen, dafür allerdings gibt es in der neuliberalen „Wirklichkeit“ Deutschlands und dieser Welt wohl doch einigen Anlass.
Nach zweihundert Jahren Erfahrung mit der kapitalistischen Produktionsweise wissen wir, wie mächtig deren Trieb zur Selbstbeschädigung, zur Zerstörung der eigenen Voraussetzung ist, wenn nicht starke Gegenkräfte im sozialen System oder in Gestalt eines steuerungsfähigen Staates diese Tendenz zur Autodestruktion konterkarieren. Will die Demokratie – übrigens auch der Kapitalismus – überleben, soll es weiterhin intakte Märkte, funktionierenden Wettbewerb geben, dann werden die modernen Gesellschaften den Primat des Politischen, den Vorrang des Bürgers vor dem Konsumenten zurückerobern müssen, dann werden sie ordentlich ausgestattete, verlässlich funktionierende Bürokratien brauchen, werden Institutionen zu reetablieren und zu erneuern haben, die der Parzellierung der Gesellschaft entgegenwirken und die verbliebenen integrativen Fäden wieder fester miteinander verweben. Denn setzt sich die institutionelle Entleerung der Gesellschaft fort, dann fehlen die Puffer zwischen den Gruppen, dann prallen die Konfliktlager ohne Struktur und Filter unmittelbar aufeinander, dann sind populistische Bewegungen schwer noch aufzuhalten, dann werden auch Proteste elementarer, weniger domestiziert, kurz und brutal: gewalttätiger ausbrechen.
Eine ausführliche Fassung dieses Beitrags wird in der Oktober-Nummer der Zeitschrift Internationale Politik erscheinen