Mit Leitern gegen die Festung Europa

Die spanische Nordafrikaenklave Melilla sieht sich immer mehr Anstürmen von Armutsflüchtlingen ausgesetzt. Binnen zwei Tagen überwanden 400 Afrikaner die Grenzzäune. Das Aufnahmelager ist überfüllt. Jetzt werden Notzelte aufgebaut

AUS MADRID HANS-GÜNTER KELLNER

Seit Wochen ist es das gleiche Bild. Hunderte von Afrikanern tauchen plötzlich aus dem Dunkel der Nacht vor dem Grenzzaun der spanischen Nordafrikaenklave Melilla auf, legen handgefertigte Leitern an und übersteigen den ersten Zaun. Weitere Leitern werden gereicht und an den zweiten Zaun angelegt. Spätestens dann ist die spanische Polizei zur Stelle. Aber gegen fast 1.000 Armutsflüchtlinge wie in der Nacht zum Dienstag oder 400 in der Nacht zum Mittwoch ist sie machtlos. Weit über 300 Afrikaner haben es an nur zwei Tagen geschafft: Sie sind in Europa. Vierzig Menschen wurden nach spanischen Angaben bei der Aktion verletzt.

Nirgends sonst sind sich Europa und Afrika, materieller Überfluss und bittere Armut, so nah wie an den Grenzanlagen der spanischen Städte von Ceuta und Melilla. Darum errichtete Spanien schon vor Jahren Grenzwälle, die aus zwei Zäunen bestehen und mit Schweinwerfern und Nachtsichtgeräten bestückt sind.

Die sind jedoch nicht unüberwindbar. Die Afrikaner wissen zu gut, dass ihre Chancen steigen, je mehr sie sind. So sind es immer mehrere hundert, die teilweise gleichzeitig und an unterschiedlichen Stellen mit ihren Leitern auf die Grenzanlage zustürmen.

Einmal auf der anderen Seite, geht der Kampf um einen Platz am Tisch der Reichen weiter. Die spanische Polizei setzt gegen sie Gummiknüppel und Gummigeschosse ein. Die Afrikaner seien sehr aggressiv, rechtfertigen sich die Beamten.

Bisher konnte der Tod von drei Flüchtlingen nicht rückhaltlos geklärt werden, zumindest in einem Fall könne ein Gummigeschoss einen Leberriss ausgelöst haben, meint die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. Es gebe keinen Hinweis auf eine Schuld von Polizisten an den Todesfällen, ergab dagegen eine interne Untersuchung des spanischen Innenministeriums.

Einmal festgenommen, erhalten die Afrikaner einen Ausweisungsbescheid, der aber wertlos ist. Denn mit den von den Flüchtlingen angegebenen Herkunftsländern in Schwarzafrika, wie zum Beispiel der Elfenbeinküste, hat Spanien keine Rücknahmeabkommen. In Melilla wurden jetzt Notzelte aufgestellt, weil das für 450 Personen gebaute Aufnahmelager inzwischen mit mehr als 1.000 Menschen vollkommen überfüllt ist.

Dann pendeln sie zwischen Hilfsorganisationen wie der katholischen Caritas oder der Bürgerinitiative „Melilla nimmt auf“ und Elendsvierteln hin und her. Irgendwann werden es zu viele, dann werden sie in ein Flugzeug gesetzt und auf das spanische Festland gebracht. Dort können sie sich zwar frei bewegen, arbeiten dürfen sie aber weiterhin nicht. Viele halten sich schließlich mit dem Verkauf von Billigschmuck, DVD-Raubkopien oder aus China importierten Billigtextilien über Wasser.

Die spanischen Behörden können dagegen kaum etwas tun.Das hat gestern auch der spanische Staatssekretär für Sicherheit, Antonio Camacho, im Innenausschuss des Parlaments in Madrid anerkannt. Er hat zunächst 40 weitere Polizeibeamte zur Grenzsicherung in die Nordafrikaenklave geschickt. Bis Februar soll der Grenzzaun von jetzt drei auf sechs Meter erhöht sein.

Aber in den Wäldern der Berge Marokkos auf der anderen Seite leben inzwischen tausende von Migranten. Marokko ist längst zum Transitland für Armutsflüchtlinge geworden. Aber auch Marokko kann die Afrikaner nicht einfach wegschicken. Sie müssen nur mit Drahtscheren statt Leitern kommen, und Europas Festungsanlage hat wieder ein Loch.