Berlin hat einen unglaublichen Reichtum

Es wird gespart. Es wird gelitten. Es wird gemeckert. Wer sich in Berlin umhört, stößt auf schlechte Laune. Das Goethe-Institut lud zum wiederholten Male 14 Kulturmittler aus aller Welt ein, um zwei Wochen lang die hiesige Kulturszene kennen zu lernen. Fünf von ihnen haben ihre Eindrücke für die taz aufgeschrieben. Sie trafen die unter dem Rotstift Leidenden und haben Berlin dennoch als reiche Stadt erlebt – nicht nur wegen der trotz allem noch vorhandenen Kulturförderung. Auch das Interesse der Berliner an der Geschichte ihrer Stadt und an ihrer Kultur empfinden sie als einzigartig

Emmanuel Witzthum (30) Musiker und Kulturwissenschafter Jerusalem, Israel

Während meiner Zeit in Berlin als Gast des DAAD-Künstlerprogramms vor drei Jahren, und besonders als Teilnehmer am Kulturmittlerseminar jetzt, sind meine Erlebnisse und Erfahrungen sehr stark. Berlin ist eine sehr besondere Stadt, voll mit historischen und kulturellen Bedeutungen, eine Stadt, die sehr divers ist. Die kulturelle Szene ist unglaublich reich. Museen, Galerien, Theater, Opernhäuser, Clubs und andere kulturelle Institutionen bis zum Holocaust-Mahnmal erinnern immer an die Geschichte Deutschlands, den kalten Krieg oder die Nazizeit.

Während des kalten Krieges haben beide Seiten, Ost und West, viel Geld in die Kultur gesteckt. In diesem Kulturkrieg war jede Hälfte der Stadt ein Schaufenster für das andere Gesicht. So entstand ein echtes Paradies für eine alternative Kulturszene, die bis heute weiter besteht. Es gab House-Musik, Street Art und andere Gruppen, die Projekte mit anderen Künstlern zusammen realisierten. Kleine Performances und Installationen, das ist für mich das Berlin, das ich kenne.

Die Lage der Stadt, ihr Aura und ihre Geschichte sind für viele israelische Künstler der Anreiz, um nach Berlin zu kommen – als professionelle Künstler oder als Studenten. Auch Berlins besondere Situation als Hauptstadt in einem vereinigten Deutschland mit zwei sehr unterschiedlichen Teilen macht die Stadt zu einem permanenten Work-in-Progress, etwas, das der alternativen Szene viel geben kann, obwohl es hier keine Wirtschaft gibt.

Paradies für alternative Kultur

Am Unglaublichsten aber ist, wie günstig man in Berlin leben und Orte mieten kann oder – und das ist etwas Besonderes in Deutschland – wie leicht man von Stiftungen oder Fonds Geld beantragen kann. Zwar wird hier an vielen Orten viel gejammert, dass es kein Geld mehr gibt. Aber es gibt in Berlin einen Reichtum, auf den man als Ausländer aus einem Land, in dem es wirklich kein Geld für Kultur gibt, nur neidisch sein kann.

In Berlin kann man zwar bekannt werden, aber ich glaube, dass Künstler nicht deswegen hierher kommen. Sie kommen wegen dieses Reichtums. Ich kann nur hoffen, dass Berlin diesen Reichtum, seine Diversität und Öffentlichkeit für alternative Kunst behalten wird, weil es jetzt ein kleines Paradies ist.

Akshay Pathak (23) Autor und Kulturmittler Neu Delhi, Indien

Als Kulturmittler meines Landes habe ich mich sehr intensiv mit der Kulturlandschaft Indiens beschäftigt. Das brachte meistens eine Mischung aus Enttäuschung und Schock mit sich. Obwohl Indien historisch und auch heute noch sehr viel an Kultur und Kunst zu bieten hat, ist die Lage des Künstlers unglaublich schlimm. Kunst muss bei uns eine Form von Luxus sein. In einem Land, das jeden Tag Lösungen für seine enormen Probleme sucht, Geld für Kunst auszugeben, ist dumm und einfach unmenschlich!

The city that never bores

Aber dann kam die Ankunft in Berlin. Die Stadt ist ziemlich groß, auch für mich als Inder. Die Straßen oder die U- und S-Bahn-Stationen sind nicht viel sauberer als in Indien, obwohl das dort meistens ein großes „Problem“ für Ausländer ist. Aber für mich war es interessant, hier die vielen Anzeigen von Theatern und Opern an den Haltestellen zu sehen. Es ist immer wirklich viel los. Wenn New York „The city that never sleeps“ genannt wird, dann ist Berlin mit Sicherheit „The city that never bores“. Und weil Kunst in Berlin für jeden „erreichbar“ ist, habe ich mich umso mehr in die Stadt verliebt.

Alle meine Gedanken über die Kulturlandschaft Indiens haben sich plötzlich geändert. Das liegt auch an den Berlinern, die im Bereich Kunst so aktiv und interessiert sind, dass die Stadt eine richtige Kulturstadt ist. Die ausführliche Debatten über den Palast der Republik, die jeder Mensch sehr persönlich und auch voller Stolz führt, waren für mich sehr beeindruckend. Das fehlt bei uns einfach.

Enttäuschend aber ist, dass viele Berliner sich Indien nur als das Land der Schlangen und Wunderheiler vorstellen. Diese Stadt ist so stolz darauf, „multikulti“ zu sein. Da liegt Berlin ein bisschen falsch: Eine bunte Stadt ja, aktiv und dynamisch, ja, aber nicht so offen oder multikulturell, wie sie behauptet.

Anders herum ist es auch sehr einfach, ein Berliner zu sein. Ich habe nur einen „echten“ kennen gelernt. Ich muss mich zurückhalten, die Stadt zu lieben, denn ich kann mir gut vorstellen, ganz eng mit Berlin verbunden zu sein. Ein Geschäftsführer eines indischen Restaurant, bestimmt ein „Inder“, hat meine Angst verstärkt. Als ich ihn fragte, wo er herkommt, sagte er einfach, aus „Germany“!

Junko Yamaoka (33) Musikerin und Konzertmanagerin Otsu-Shi, Japan

Meine Kontakte zu Berlin reichen bis vor 20 Jahren zurück. Anlässlich des 300. Jubiläumsjahrs von Johann Sebastian Bach gastierte ich mit einem japanischen Jugendorchester in verschiedenen Städten der damaligen DDR, darunter auch in der Hauptstadt der DDR, in Berlin. Das war meine erste Auslandsreise. Die prächtige Straße Unter den Linden mit ihren historischen Gebäuden, das Brandenburger Tor, der hohe Fernsehturm, die breiten Autobahnen. Alles war für eine 13-Jährige neu und hat mich sehr fasziniert.

Aber ich war vor allem von der Herzlichkeit der Menschen überwältigt. Wir wurden überall mit Wärme empfangen. In jedem Konzert war die Liebe zur Musik im Publikum zu spüren. Auf dieser Reise begriff ich, dass Musik etwas besonders Schönes ist. So entschloss ich mich, für ein Musikstudium nach Europa zu kommen.

Ein paar Jahre später war ich wieder mit dem Jugendorchester in Berlin. Diesmal verstand ich ein bisschen mehr, was in der Welt geschieht. Ich blickte von der östlichen Seite auf das Brandenburger Tor und die Mauer. Im Osten standen bewaffnete Soldaten mit strengen Gesichtern, auf der westlichen Seite waren viele Leuten zu sehen, die lächelnd dem Osten zuwinkten. Das war ein Gegensatz.

Wendepunkt in meinem Leben

Nach meinem Studium besuchte ich im Frühjahr 2003 wieder Berlin. Es war der Zeitpunkt, nach meinem mehrjährigen Aufenthalt in Europa wieder nach Japan zurückkehren zu müssen. Ich war sehr überrascht, dass sich die Stadt sehr verändert hatte. Berlin ist viel lebendiger und kulturell bunter geworden. Ich ging mehrmals durch das nun offene Brandenburger Tor hin und her und dachte über meinen neuen Anfang nach.

Nun bin ich zurück in Berlin, als Kulturmittlerin. Ich habe wunderbare Menschen aus Deutschland und den anderen Ländern kennen gelernt, die unerschöpfliche Energien und tolle Ideen im Kulturbereich einsetzen. Es hat mir für Vieles die Augen geöffnet.

Ich komme immer wieder nach Berlin, wenn es einen Wendepunkt in meinem Leben gibt. Wenn ich hier bin, weiß ich es noch nicht. Aber nachher geschieht immer etwas in meinem Leben. Ich weiß noch nicht, was dieses Mal kommt. Berlin öffnet mir immer eine neue Welt.

Francisco Salas (41) Kurator und Kulturmanager Santiago de Chile, Chile

Das kulturelle Leben in Berlin ist einzigartig. Die Stadt besitzt das größtmögliche Angebot an kulturellen Aktivitäten. Ein Vergleich mit anderen Städten ist kaum möglich und unnötig. Möglich wäre er allenfalls mit New York.

Warum wird dennoch so viel über Berlin gemeckert? In Bezug auf die Unangepasstheit ist das richtig, aber nur, wenn man dies als etwas Schlechtes versteht. Und wenn jemand meckert, dass immer nur Negatives gezeigt wird – na ja! Doch eigentlich kann man nur darüber meckern, dass keiner die Zeit hat, sich einen Überblick über das reichhaltige Angebot zu verschaffen.

Berlin ist unvergleichlich

Ein Infoblatt im Hotel ist die Initialzündung, das hiesige Kulturleben kennen zu lernen. Berlin ist wie eine Braut am Tag ihrer Hochzeit. Die Liste der Cafés und der Restaurants nimmt kein Ende, dazu kommen die Ausstellungen, Kinos, Konzerte. Das ist wie ein Puzzle, das immer größer wird, je mehr man von der Stadt erfährt.

Das kulturelle Klima hier kann man nicht in wenigen Worten erklären. Das muss man erleben, leben. Die Geschichte Berlins ist lebendig, eigen. Vieles kann nur hier geschehen, weil Berlin eine bestimmte Geschichte hat, im sozialen, politischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Bereich. Das Bild, das ich von Berlin habe, ist das einer Stadt und ihrer Menschen, die nicht die Ereignisse verschweigen, so stark sie auch seien: den Krieg, die Zeiten des Kalten Krieges, die Mauer, den Holocaust, die Punkbewegung im Kontrast dazu.

Die Stadt, aus der ich komme, Santiago de Chile, erinnert im Gegensatz dazu in keiner Weise an das, was bei uns am 11. September 1973 geschah. Auch Santiago de Chile besitzt heute ein reiches Kulturangebot, aber es ist schwer, überhaupt Vergleiche anzustellen. Vielleicht nähert sich Santiago nach und nach Berlin. Die Qualität und die Quantität der Angebote sollte sich bei uns ändern, das braucht aber Zeit. Vor kurzem wurde ein Nationaler Kulturrat (der „Consejo Nacional de la Cultura“) ins Leben gerufen, ein großer Schritt in die richtige Richtung. Er hat den Auftrag, die künstlerische Produktivität zu fördern und sich für die Entwicklung in der Kunst einzusetzen, und zwar unabhängig von der Politik. Die Autonomie der Künstler muss gefördert werden.

Übersetzung: Monika Tkotz-Böhme

Laurens Arnout Runderkamp (31) Mitarbeiter des Goethe-Instituts Rotterdam, Niederlande

„Wer kennt den schlauesten Weg zum nächsten Kulturtermin?“ Diese Frage wird zwischen mir und dem Seminarteam täglich heiß diskutiert. Ich habe fast fünf Jahre in vier verschiedenen Innenstadtbezirken Berlins gelebt, und auch wenn mein niederländischer Akzent es nicht vermuten lässt: Ich kenne mich hier ziemlich gut aus. Die Hetzerei nimmt kein Ende – von Potsdam in ein Kreuzberger Szenerestaurant, vom Holocaust-Mahnmal ins HAU-Theater, von der Philharmonie zum Club 103.

Die Dimensionen der Berliner Kulturlandschaft sind sogar für einen Westeuropäer wie mich, der die Stadt bereits gut kennt, kaum zu fassen. In jedem Kulturbereich gibt es unzählige Institutionen, die sich mit den unterschiedlichsten Kunstformen beschäftigen: Theater, bildende Kunst, Film, Literatur, Tanz, Musik oder eine beliebige Form dazwischen. Die zahlreichen Kulturschaffenden, die ich getroffen habe, jammerten jedoch ausnahmslos über chronische Unterfinanzierung ihrer Institutionen. Das tolle Internationale Literaturfestival bekommt beispielsweise pro Jahr 700.000 Euro – meines Erachtens sinnvoll investiertes Geld. Aber vielleicht soll man dort, wie an vielen anderen Orten auch, einmal am Tag daran denken, dass eine solche Fördersumme die komplette staatliche Kulturförderung Indiens übertrifft.

Count your blessings, Berlin!

Die Geschichte hat Berlin mit einer schweren Erbschaft belastet, der Stadt aber auch einen Kulturreichtum beschert, der seinesgleichen sucht. Diesen Reichtum zu genießen, zu pflegen und zu hegen, ist eine Aufgabe, der sich die Berliner Gesellschaft nach wie vor stellen muss. Ich werde als Mitarbeiter des Goethe-Instituts Rotterdam versuchen, dazu beizutragen, dass diese Botschaft auch im Ausland weitergetragen wird, und ich bin sehr dankbar, dass man mir die Chance gegeben hat, während dieses Seminars so viele verschiedene inspirierende Menschen kennen zu lernen.

Wir durften interessante und entsetzliche öffentliche Personen und Kulturveranstaltungen erleben, reine Geldverschwendung genauso wie kulturelle Eye-Opener. Die dynamische Kulturstadt Rotterdam wird mir nächste Woche wohl etwas langweilig erscheinen, aber auch daran gewöhnt man sich wieder. Ich kann ja immer wiederkommen und Berlins Segnungen genießen.