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Archiv-Artikel

Durchgangszimmer

Was ist übrig geblieben vom Mythos Prenzlauer Berg als Schmelztiegel von Künstlern und Unangepassten? Mehr als Erinnerungen in Schwarzweiß?

VON CLAUS LÖSER

Eine Straßenbahn quält sich ruckelnd die Schönhauser Allee entlang, fährt nach Norden, Richtung Pankow. Wind wirft dichten Regen gegen die Scheiben. Wenige, meist alte Leute passieren das Blickfeld, mit eingezogenen Schultern tapsen sie über das Kopfsteinpflaster, weichen Pfützen und Fahrzeugen aus. Nahezu entvölkert scheint diese Stadt, wie aufgegeben von ihrer Bevölkerung, in allumfassender Agonie ertrinkend.

Erinnerungen an den Prenzlauer Berg in den Mittachtzigern: Stets fallen sie in Schwarzweiß aus – als Sequenzen aus den Super-8-Filmen von Gino Hahnemann oder als Fotografien von Harald Hauswald, Helga Paris und Ulrich Wüst. Das Gedächtnis verfällt den Klischees einer wenig originellen, filmischen Rückblende, verschneidet die erlebten Bilder nur allzu gern mit den Abbildungen aus zweiter und dritter Hand. Selbstverständlich gab es hinreichend Farbtupfer in dieser legendären Stadtlandschaft – auch während ihrer vier Jahrzehnte realsozialistischen Interims. Nur ist das stilisierte Schwarzweiß von Erinnerung und Fotografie eben doch wahrhaftiger als alle gegenteiligen, in ostalgischem Orwo-Color auftrumpfenden Behauptungen.

Der Mythos des Prenzlauer Bergs war auch in den Achtzigerjahren eine Fiktion, im Gegensatz zur aktuellen Variante aber noch keine Folie für Tourismus und Immobilienhandel. Beim Versuch, den historischen mit dem zeitgenössischen Mythos abzugleichen, fällt eine Umkehrung der Wahrnehmung auf: Heute sind die meisten Quartiere nach bundesdeutschem Standard durchsaniert und farbenfroh getüncht. Dafür scheinen sie hinter den Fassaden aber kaum noch Potenzen einer irgendwie gearteten Unberechenbarkeit zu bergen. Früher hingegen waren die Kulissen grau und morbid, beherbergten jedoch zahlreiche Herde zivilen und künstlerischen Ungehorsams.

Sehr treffend beschreibt Peter Wawerzinek die flüchtige personelle Konsistenz des Viertels zu DDR-Zeiten als „Durchgangszimmer Prenzlauer Berg“. Kaum jemand, der hier seine Kreise zog, stammte aus Berlin. Aus allen Winkeln des halben Landes strömten Unangepasste in das Viertel zwischen Greifswalder und Schönhauser Allee, besetzten Wohnungen, nutzten die sich bietenden Freiräume. Den Elternhäusern und Provinzen war man gerade noch entkommen, wollte nun hier alles anders machen.

Aber auch das war immer nur ein Übergang. Die gesamte ostdeutsche wie Ostberliner Subkultur hatte immer eine gewisse Tragik oder Vergeblichkeit: Sie schmolz immer in mindestens gleichem Maße ab, wie sie imstande war, sich zu formieren. Nach den massiven Ausreisewellen 1984 und 1988 hatte sich die Szene quasi von selbst aufgelöst und so den Zusammenbruch der DDR vorweggenommen. In der unmittelbaren Nachwendezeit gab es Ansätze einer Reanimation, deren offensivster wohl die Gründung des „Druckhauses GALREV“ durch Pioniere der ostdeutschen Samizdat-Bewegung war. Mit der Enttarnung von Sascha Anderson und anderen Stasi-Zuträgern fiel das Unterfangen speziell und die Szene insgesamt jedoch in eine irreversible Krise.

Dennoch sind einige Aktivposten der „Prenzlauer-Berg-Connection“ (Adolf Endler) auch heute noch auffindbar – wie der „Torpedokäfer“ auf der Dunckerstraße, lange Zeit Wirkungsstätte des Sudelpoeten Lothar Feix, oder das „Uebereck“, betrieben von Lyriker Stefan Döring. Im „Metzer Eck“ gibt es nach wie vor einen Stammtisch mit ehemaligen Bürgerrechtlern, im „Walden“ einen weiteren. Das „Kaffee Burger“ auf der Torstraße liegt zwar schon in Mitte, ist aber ein legitimes Kind des Prenzlauer Bergs, da von Bert Papenfuß, einem seiner umtriebigsten Literaten, aus der Taufe gehoben.

Wenn es auch keine konzertierten Aktionen mehr gibt und sich der Hintergrund ohnehin komplett geändert hat, leben noch oder wieder relativ viele Mitstreiter der DDR-Alternativkultur im inzwischen von Süd-, West- und Norddeutschen dominierten Kiez: die Malerin Cornelia Schleime, der Fotograf Thomas Florschuetz, die Dichter Detlef Opitz, Wolfgang Hilbig, Lothar Trolle, der Filmemacher Thomas Heise, die Musiker von Rammstein und und und.

Es nützt ja nichts, auf die Schwaben zu schimpfen, die hier mit im Wirtschaftswunder von ihren Eltern aufgehäuftem Geld Häuserzeile um Häuserzeile kaufen. Auch sie sind nur Akteure eines weiteren Interims. Oder, wie es in Gino Hahnemanns Film „September, September“ heißt: „bewegung ist eine täuschung / vielfaltchaos / dekoration …“.