„Keine Perspektive“

BUCH Dass „Gastarbeiter“ Kinder mitbringen, war nicht vorgesehen – sie wurden zurückgelassen

■ 49, arbeitet in Bremen als Journalist für verschiedene ARD-Sender.

taz: Sind Sie ein Kofferkind, Herr Çalışır?

Orhan Çalışır: So bezeichne ich mich nicht. Ich war acht Jahre, als meine Schwester und ich mit meiner Mutter nach Deutschland zu meinem Vater gekommen sind, ich selbst wollte dann aber zurück.

Was genau sind Kofferkinder?

So nennt man Kinder, die von Ihren Eltern bei der Migration in der Türkei zurückgelassen worden sind, bei den Großeltern, und dann irgendwann später nachgeholt wurden.

In welcher Zeit war das üblich?

In den Siebzigerjahren vor allem. Für die Migranten war die Vorstellung normal, dass sie nach zwei Jahren zurückkehren würden. Schnell viel Geld verdienen und zurückkehren. Mein Vater hat bei Thyssen in Bielefeld gearbeitet, meine Mutter in einer Keksfabrik.

Und Ihnen gefiel es nicht?

Für uns Kinder war hier in Deutschland nichts vorgesehen. Es gab Türken- oder Griechenklassen in Nordrhein-Westfalen, wo wir lebten, ich war in einer Gruppe von 42 Schülern, in der alle Kinder vom ersten bis zum siebten Schuljahr waren, das war eine Aufbewahrung, es gab keine Perspektive. Ich wollte zurück.

Und Ihre Eltern?

Meine Eltern sind länger als die zwei Jahre geblieben, dann aber 1984 doch zurückgegangen. Ich bin aber 1982 zum Studieren nach Deutschland gekommen.

Heute wird ein Buch vorgestellt, in dem es um die „Generation Koffer“ geht, Kinder zwischen den Kulturen, ihre psychischen Probleme.

Es ist eher anormal, wenn man als Migrant in Deutschland keine psychischen Probleme bekommt. Grund dafür ist die Migrantenpolitik dieses Staates. Denken Sie nur daran, dass deutscher Mainstream von uns unter dem Begriff „Integration“ tagtäglich die Selbstverleugnung verlangt. Und: Einer der größten Staaten der Welt mit bestens ausgestatteten Sicherheitsorganen ist nicht Willens und in der Lage, die NSU-Morde aufzuklären. Könnten Sie unter diesen Umständen psychisch gesund bleiben?

In dem Buch von Gülçin Wilhelm wird die Geschichte eines Mädchens erzählt, das bei ihren Großeltern zurückgelassen wurde und mit fünf Jahren zum ersten Mal bewusst ihre Eltern gesehen hat. Sie erzählt einige solcher Lebensgeschichten, es soll 700.000 Betroffene geben.

Es war natürlich schwierig, weg von den Eltern zu sein. Ich würde aber nicht unbedingt sagen, dass man einen Schaden davon hat, wenn man bei den Großeltern aufwächst. Heute ist es fast normal, dass in Familien nur ein Elternteil präsent ist. Jede macht aber seine, ihre spezifische Erfahrung. Daher muss man die Menschen ernst nehmen, wenn sie von psychischen Problemen berichten.  INTERVIEW: KAWE

19 Uhr, Kultursaal der Arbeitnehmerkammer, Bürgerstr. 1: Vorstellung des Buches „Generation Koffer“ (Orlanda-Verlag)