: Bilder wie Schlingpflanzen
Bisher war Matthew Barneys „The Cremaster Cycle“ nur im Museum zu sehen, nun kommt er in die Kinos – ein Schauspiel der Allegorien und Verpuppungen, das am liebsten auf sich selbst verweist
VON TOM HOLERT
Mit einem einfachen Trick zwingt Matthew Barney alle, die sich über seinen „Cremaster Cycle“ äußern wollen, erst einmal zu einem Besuch in der urologischen Abteilung. Schließlich verlangt der merkwürdige Titel dieser mit großem Aufwand produzierten Filme, die Skulptur sein wollen (oder andersherum) und jetzt auch in die Kinos kommen, nach Erläuterung. Um das hier rasch zu erledigen, sei deshalb mitgeteilt, dass der Musculus cremaster für das Heben und Zusammenziehen der Hoden zuständig ist – ein Vorgang, der nicht durch Willenskraft, sondern durch Angst, Kälte oder sexuelle Erregung verursacht wird. Mit diesem Titel hat Barney für die fünf zwischen 1994 und 2002 entstandenen Filme einen Ton gesetzt. Neben der urologischen lässt sich auch eine utopische Note heraushören, vielleicht sogar eine humoristische. Ob letztere beabsichtigt ist oder nicht, bleibt eines der Rätsel des Willens, das dieses Werk aufgibt.
Dass überhaupt etwas unwillkürlich geschehen könnte, ist angesichts der insgesamt sechseinhalb Stunden währenden Suite, die eine einzige große Demonstration individuellen Formwillens und unverwechselbarer Fantasieleistungen zu sein scheint, ein zunächst überraschender Gedanke. Barneys Zyklus veröffentlicht ein Privatuniversum von zu opulenten Obsessionen gesteigerten und gestylten Faszinationen, eine überbordende Inszenierung der Mutationen und Metamorphosen, deren Idee und Anordnung sich sämtlich einem höheren Willen zu verdanken scheinen, aber gleichwohl keinen Sinn im landläufigen Verständnis des Wortes ergeben, obwohl hier alles nach Deutung und Bedeutung ruft.
„Will is character in action.“ Dieses Zitat, angeblich dem legendären American-Football-Trainer Vince Lombardi entlehnt, stellt Barney, ein ehemaliger Medizinstudent und (aufgrund seiner geringen Körpergröße) verhinderter Footballprofi, an den Anfang des längsten und aufwändigsten, 2002 produzierten Films „Cremaster 3“. Über drei Stunden dauert die sich daran anschließende Sequenz reicher, detailgenau ausgestatteter und kinematografisch minutiös durchkomponierter Tableaus, mit denen, glaubt man den Lektüreanweisungen der Barney-Vermittler, die Entstehung des Chrysler Buildings in New York als mehrstufiger Initiationsritus unter Freimaurerbedingungen erzählt wird.
Wie in heidnischen Mythen oder in Computerspielen arbeiten sich die Protagonisten von Level zu Level, vom Fundament bis zur Spitze des salomonischen Wolkenkratzers vor, bestehen Prüfungen, erleben auf dem mühsamen Weg nach oben traumähnliche Verschmelzungen und Trennungen, ein bisschen so, als würden Menschen, Maschinen und deren Hybride das Leben der Zellen nachspielen.
Im Chrysler Building dürfen Chrysler-Autos nicht fehlen, der Freimaurer-Lehrling (Barney selbst, der attraktiver Narziss genug ist, um in vier der fünf Filme die tragenden Rollen zu übernehmen) bearbeitet die skulptural ausgestalteten Tankstutzen von fünf Crown Imperials aus dem Jahr 1967 (Barneys Geburtsjahr) mit Zement, wobei jeder Wagen je ein Emblem einer Cremaster-Episode trägt. Ein Karambolage-Rennen zwischen den Autos folgt, ebenso weitere bildhauerische Einsätze der Barney-Figur, wenn er, bereits wieder etwas höher hinaufgestiegen, den nächsten Wagen mit Zement ausgießt, um so jenen vollendet symmetrischen Freimaurerstein zu erhalten, der den Regeln gemäß eigentlich gehauen und nicht gegossen werden sollte.
Nichts von dem, was sich ereignet, entspricht gewöhnlichen Vorstellungen von Handlungslogik und erzählerischer Entwicklung. Das liegt am fehlenden Dialog, an der A-Kausalität des Geschehens, an den superweichen oder schroffen Übergängen zwischen atemberaubenden Einstellungen genüsslich ausgebreiteter und (notwendig ästhetisierter) Gewalt und Sexualität. Vor allem aber liegt es an einem künstlerischen Ansatz, der sich eher an Namenstafeln und Stammbäumen, an Anatomieatlanten und Landkarten, an Taktik-Flipcharts oder Tanzdiagrammen orientiert als an der Struktur eines Drehbuchs. Insofern Barney bei aller visuellen Fülle ein kalkulierender konzeptualistischer Künstler geblieben ist, können seine Filme zwar immer „filmischer“ werden, die letzten Verbindungen zur Videokunst kappen, aber es bleibt der Eindruck einer dem Erzählkino fremden Strukturalität, an der die Bilder emporranken wie Schlingpflanzen.
Barney zeigt in seinen Beschäftigungen mit Horrorfilmen, Freimaurerei, keltischer Kultur, Musicals, Mormonismus oder Biologie zudem, dass er sich zwar in den Archiven der populären Mythen und esoterischen Gesetze das Material für seine „absichtslosen Diagramme“ (Barney) holt, doch den beiliegenden Gebrauchsanweisungen das Netz seiner eigenen Regelwerke überwirft. Nicht nur auf der audiovisuellen Ebene, auch in der Infrastruktur der Referenzen gebietet nur einer. Das unwillkürliche Heben und Senken des Hodenmuskels metaphorisiert einen Zustand der Absichtslosigkeit, der vielleicht als fernes Ziel angestrebt, aber (noch) nicht zugelassen wird. Denn das Autorprinzip herrscht ungebrochen, Originalität grenzt an organisierte Willkür, Autonomie an Autismus. Barney erwählt konkrete „Modelle“ wie den Musculus cremaster – aber auch im Sinne von Vorbildern. Harry Houdini, der legendäre Entfesselungskünstler, ist ein solches Modell, ähnlich wie Richard Serra, der maskuline Bildhauer gefährlicher öffentlicher Skulpturen, oder Gary Gilmore, der von Norman Mailer porträtierte mormonische Mörder, der sich selbst der Todesstrafe ausgeliefert hat. Und er entwickelt die „Modelle“ zu „Systemen“ oder „Abstraktionen“.
Man könnte also sagen: Das Auf und Ab der Hoden wird zur vertikalen Bewegung des Freimaurerlehrlings „abstrahiert“. Letzterer erklimmt nicht nur das Chrysler Building, sondern auch das Schneckenhaus von Frank Lloyd Wrights Guggenheim Museum, wobei ihn die Kamera beobachtet, als würde dieses Bio-Pop-Ballett unter einem Mikroskop aufgeführt. Wohin sich die skulpturalen Performances, als die Barney seine Filme konzipiert, entwickeln, in welche Abgründe der Begründbarkeit, das gehorcht nicht den Erwartungen an eine Storyline. Keine Perspektive einer narrativen Auf- oder Erlösung, sondern Choreografie der ultra-exakten Verunmöglichung, der Nicht-Erfüllung, des absurden, bisweilen traurig-tragischen oder auch sublimen Scheiterns am eigenen und anderen Körper wie an den Körpern der unbelebten Materie.
Er sei an dem Look eines narrativen Spielfilms interessiert, wenn dieser sich gleichzeitig einer nicht-hierarchischen Beziehung zwischen Landschaft und handelnder Figur, dem „character“, annähere, hat Barney einmal gesagt. Mit anderen Worten: Mimesis und Anthropomorphismus als glamouröser Akt, was in der Tat dazu beiträgt, dass die Cremaster-Filme ihre Erzählungen in der Bewegung der Räume selbst finden, in Prozessen der Ein- und Ausstülpung der Flächen und Körper, im Wechsel zwischen klinischen Nahaufnahmen – wie jener der Implantation von komprimiertem Autoschrott in den Mund des Lehrlings – und ornamentalisierenden Aufsichten in einem Football-Stadion („Cremaster 1“).
Aber auch wenn Wunden und andere Leibesöffnungen abgetastet werden, als handelte es sich um Zimmerfluchten oder Küstenformationen, so münden diese Filme, die sich so offensichtlich einem subdiskursiven Fließen verschrieben haben, doch immer wieder in zentrierten Würde-Bildern ihrer clever gecasteten Protagonisten, die – so etwa Mailer („Cremaster 2“), Serra („Cremaster 3“) oder Ursula Andress (in „Cremaster 5“) – wie Heilige eines Individualkults präsentiert werden, oder in langen Plansequenzen der Permutationen des Autor-Darstellers in seinen Rollen als Satyr, Gary Gilmore oder Lehrling.
In immer neue, aber nach all den Jahren auch irgendwie vertraut oder sogar etwas muffig wirkende polymorphe Szenerien und Situationen wirft sich Barney, präsentiert weiterhin die erstaunlichen mechanischen Anschlussfähigkeiten unterschiedlichster Extremitäten, Mündungen, Membranen, Texturen, Materialien, Tätigkeiten, Posen und Gesten. Wohin werden diese Tauchfahrten und Flugbahnen noch führen? Wird sich das Geheimnis um das Drama der embryonalen Ausdifferenzierung der Geschlechter lüften, jenes vorgebliche „Thema“ des „Cremaster Cycle“?
Drei Jahre musste das europäische Publikum warten, um diesen Ring der Körperöffnungen auch außerhalb der Museen, der Bienenstöcke der bildenden Kunst, also in Kinosälen, betrachten zu können, drei Jahre, in denen Barney unaufhörlich weiter produziert hat. Nach „De Lama Lâmina“, einem Film über eine Schlamm-Masturbation-Samba-Intervention auf dem Karneval von Salvador de Bahia im Jahr 2004, wurde bei den diesjährigen Filmfestspielen in Venedig „Drawing Restraint 9“ uraufgeführt, eine zweieinhalbstündige blut- und vaselinereiche Ode an das Schicksal der Wale und die Star-Beziehung von Matthew Barney und Björk.
Es ist nicht unbedingt erstaunlich, dass sich Barney den Walen und ihren Jägern widmet, „Moby Dick“, das ist in etwa die mythische Kragenweite des Künstlers. Nur, wenn sich Björk in Interviews ausmalt, wie sie als Wale zur Antarktis davonschwimmen, entspricht dies kaum einem Fluchtbegriff, den Barney teilen würde. Sein Eskapismus ist bisher nicht auf das anmutige Verschwinden angelegt, sondern dem Spektakel der Entfesselung verpflichtet. So wie Houdini sich immer wieder vor Publikum eingeschlossen hat, um dann dem Wiederholungstrieb der magischen Selbstbefreiung nachzugeben, baut Barney üppige filmische und mythologische Käfige, aus denen er sich mit schöner Vergeblichkeit zu befreien versucht, nur um immer tiefer in die Systematiken seines maßgeschneiderten Universums vorzudringen. Ein Schauspiel der Allegorien und Verpuppungen, das auf allerlei Locked-In-Syndrome der Gegenwart verweisen könnte. Oder einfach nur, immer wieder, auf sich selbst.
„The Cremaster Cycle“, Regie: Matthew Barney. Mit Matthew Barney, Ursula Andress u. a., USA 1994–2002, 396 Min.; die fünf Teile sind zurzeit immer mittwochs in Berlin zu sehen, ab 12. 11. in Köln, ab 28. 12. in München, weitere Städte unter www.alamodefilm.de