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Archiv-Artikel

Retter verzweifelt gesucht

Die Union gelobt nach den verheerenden Wahlniederlagen Besserung. Generalsekretär Frank Henkel mahnt eine Öffnung zur Mitte an. Doch die Köpfe und der Aufbau der Partei geben das nicht her

VON MATTHIAS LOHRE

Man möchte es der krisengeschüttelten CDU so gern glauben. Nach vier Wahlniederlagen in vier Jahren, Personalquerelen und Finanzskandalen kündigt die Partei an, sie wolle sich künftig „für Gruppen aus anderen soziokulturellen Milieus“ öffnen. „Liberalität“ und das CDU-Verständnis von „Bürgerlichkeit“ sollen nicht mehr wie Feuer und Wasser sein. Das Partei-Motto nach der jüngsten Abstrafung bei der Bundestagswahl, als sie nur auf katastrophale 22 Prozent der Stimmen kam, ist klar: Wir haben verstanden. Aber ob die Liberalisierung der Schwarzen wirklich eine Chance hat, liegt im Dunkeln.

In einem internen Papier hat der CDU-Generalsekretär Frank Henkel seinen Parteifreunden auf drei Seiten aufgelistet, warum die Partei seiner Ansicht nach schwächelt. Auf einer Klausurtagung von Landesvorstand und Abgeordnetenhaus-Fraktion räumte Henkel am vergangenen Wochenende erstmals offen ein, die CDU drohe zu einer „strukturellen Minderheitspartei nicht nur im Ost-, sondern auch im Westteil der Stadt zu werden“. Unter 50-Jährige, BürgerInnen in Großsiedlungen und in „Gebieten mit einem hohen Anteil ausländischstämmiger Wahlberechtigter“ wählten kaum noch die Union. Auch das lange Zeit treue „Wirtschaftsbürgertum“ aus Handwerksmeistern, Ärzten und Anwälten wandere zu den Grünen ab.

Das jüngste Debakel ist erst wenige Tage alt: Die Partei hat eine Selbstanzeige beim Bundestagspräsidenten abgeben müssen, weil neue Zweifel aufkamen, ob ihre Rechenschaftsberichte von 1995 bis 1997 korrekt sind. Bis Ende Oktober muss sich die Union erklären. Andernfalls droht ein Bußgeld in Höhe von 300.000 Euro.

Der Leidensdruck ist so groß, dass selbst die Union die Vielfalt an Lebensentwürfen in einer modernen Großstadt wie Berlin zu akzeptieren gelobt. Geradezu flehend klingen Henkels Worte an die Parteifreunde: „Bürgerinitiativen, projektorientiertes Engagement und Initiativen zum Erhalt und Steigerung der Lebensqualität müssen der CDU nicht fremd sein.“ In diesen „basisdemokratisch-alternativen Ansätzen“ erkennt der CDU-General einen „bürgerlich-konservativen“ Kern. Mit dem Henkel-Papier befasst sich jetzt eine eilig eingesetzte siebenköpfige „Strategiekommission“.

Auf die Frage, wer den Wandel der traditionell kleinbürgerlichen Union verkörpern soll, nennt der Sprecher des Landesverbands, Dirk Reitze, zwei Namen: Joachim Zeller, der Bezirksbürgermeister von Mitte, und Stefanie Vogelsang, die Baustadträtin in Neukölln. Doch das Beispiel der beiden liberal-konservativen Köpfe zeigt eher, woran die angekündigte Erneuerung scheitern könnte. Am Partei-Aufbau.

Als „tendenziell autistisches Raumschiff“ bezeichnet ein Papier des Arbeitskreises „Große Städte“ der Bundes-CDU die kleinste Zelle der Unions-Macht: den Ortsverband. Weite Teile des Papiers hat Henkel dort abgeschrieben, das Raumschiff-Zitat inklusive. Bundesweit haben die regionalen Parteigliederungen – Orts-, Kreis- und Landesverbände – traditionell großen Einfluss. Während sich in anderen Bundesländern ein feines Sensorium entwickelt hat, das Interessen und Inhalte zwischen den Verbandsebenen austariert, ist in Berlin dieser Mechanismus zerstört. Als vor vier Jahren die große Koalition zerbrach, kollabierte auch die jahrzehntelange Herrschaft von Eberhard Diepgen und seinem Fraktions-Chef Klaus-Rüdiger Landowsky. Seither segelt das Schiff CDU führungslos, Leichtmatrosen aus den Kreisverbänden rissen einander wiederholt das Ruder aus der Hand.

Wer in liberalere Teile der Partei hineinhorcht, hört überwiegend Skeptisches zu den Chancen des neuen Partei-Kurses: Ausgerechnet jene Kreisfürsten, die bei der Abgeordnetenhaus-Wahl vor vier Jahren nur zwei von 35 Parlamentsmandaten Frauen überließen, wollen jetzt freiwillig Macht an Liberalere abgeben? Und: Stefanie Vogelsang mag zwar mehr Einfluss bekommen. Jedoch wäre das ihrem Rückhalt im starken Kreisverband Neukölln geschuldet – und mitnichten ein Zeichen der Erneuerung. Zudem hat Vogelsang schon jetzt alle Hände voll zu tun: Das Mitglied in der Strategiekommission will im kommenden Jahr Bezirksbürgermeisterin werden. Für Strategiedebatten bliebe dann wenig Zeit. Und Joachim Zeller entrissen die einflussreichen Kreischefs aus dem Südwesten erst vor vier Monaten den Job als Landesvorsitzender.

Im Dezember und Januar werden Orts- und Kreisverbände auf Nominierungsparteitagen ihre KandidatInnen für die Abgeordnetenhauswahl auskungeln. Dann wird sich zeigen, ob hinter den jüngsten Beteuerungen etwas steckt. Oder ob das „autistische Raumschiff“ CDU weiter schlingert.