: Vor der Zukunft kommt die Gegenwart
Durchatmen im rasanten Prozess der Transformierung: Das Kulturnetzwerk relations verbindet zwischen Sarajevo und Berlin, Ljubljana und Leipzig oder Sofia und Dresden unterschiedliche kulturelle Akteure zu gemeinsamen Projekten in Deutschland. Doch nicht nur klassischer Kulturaustausch ist das Ziel
von ROBERT HODONYI
Zwischennutzung ist das urbane Gebot der Stunde. Die temporäre Aneignung verlassener industrieller oder städtischer Zonen durch verschieden motivierte Raumpioniere die Zukunft unserer Städte, wie vor kurzem auf dem Symposium „Wildes Kapital“ in Dresden unter anderem aus Zagreb, Sofia, Leipzig oder Berlin berichtet wurde. Warum eigentlich immer nur alte Fabrikhallen, entwohnte Häuser oder verlassene Lagerräume bespielen? Verspiegelte Glasarchitektur ist doch auch nicht das Schlechteste, und so fand „Wildes Kapital“ in den leerstehenden obersten Stockwerken des World Trade Center Dresden statt. Mit Blick auf den Stadtteil Friedrichstadt, in dem vor allem Hartz-IV-Empfänger wohnen, wurde hier oben eine Woche lang über wilden Kapitalismus in postsozialistischen Städten diskutiert. „Wie verändern sich diese Städte in Architektur und Nutzungskonzepten unter dem vorherrschenden ökonomischen Wettbewerb und durch Privatisierung? Welche Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten erzeugen diese ökonomischen Prozesse im Stadtbild?“, formulierte Christiane Mennicke, eine der KuratorInnen, das Ausgangsinteresse.
Als Resultat einer mehrmonatigen Zusammenarbeit von ehemaligen Protagonisten der Initiative „DresdenPostplatz“ (taz berichtete) aus dem Umfeld des Kunsthauses Dresdens und des Visual Seminar Sofia, kam „Wildes Kapital“ unter Vermittlung von relations zustande. Im Programmbereich Mittel- und Osteuropa der Kulturstiftung des Bundes initiiert relations gemeinsame Projekte mit Kuratoren, Wissenschaftlern und Künstlern aus Ländern des östlichen Europas und Deutschland. Katrin Klingan, künstlerische Leiterin von relations, erzählt etwa von „Alte Arte“, einem Kunst- und Kulturmagazin im öffentlich-rechtlichen Rundfunk der Republik Moldau, das seit Januar alle zwei Wochen auf Sendung geht. „Alte Arte“ zeigt im staatlichen Teleradio Moldova nicht nur Berichte aus der lokalen und internationalen Kunst- und Kulturszene, sondern ist Kunstfernsehen par excellence. Künstlerinnen und Künstler generieren das Medium zur Message und produzieren mediale Arbeiten im Fernsehformat.
In strikter Zurückweisung des „westlichen Blickes“ auf den politischen und kulturellen Raum Osteuropa und der damit oftmals einhergehenden Transformationsrhetorik und EU-Tauglichkeitsargumentation, versucht relations, wie im Falle „Alte Arte“, kompatible Partner in Ost- und Westeuropa auf gleicher Augenhöhe zu verbinden. Allerdings sind bestimmte Förderkriterien Voraussetzung, um überhaupt erst einmal in den Blick von relations zu gelangen. So stellt die enge Verbindung von künstlerischem und politischem Feld ein wichtiges Paradigma dar. Man könnte relations auch einen gewissen metropolenzentrierten Blick unterstellen, da nur Projekte in den Hauptstädten fokussiert wurden. Aber das sei eine bewusste Setzung gewesen, sagt Klingan, da in Sofia, Zagreb, Ljubljana oder Warschau bewährte Strukturen existierten, die aber auf Grund weggebrochener Fördermodelle, vor allem des Soros-Netzwerkes, wieder reaktiviert werden konnten.
So begegnen die bosnischen Akteure des Projektes De/construction of Monuments der separatistischen Denkmalpolitik der neuen Eliten des ehemaligen Jugoslawiens und der alltäglichen Präsenz nationaler Mythen und Erzählungen mit Entwürfen von Antidenkmälern für den öffentlichen Raum, die den offiziellen Denkmals- und Personenkult ins Visier nehmen. Der über relations hergestellte Konnex zum Neuen Berliner Kunstverein mündet nun in einer künstlerischen Zusammenarbeit namens „deplaced“. In deren Zentrum: die Untersuchung des symbolischen Gehalts von Monumenten, öffentlicher Erinnerungen und historischer Einschreibungen in Sarajevo und Berlin.
Aber auch zwischen Ljubljana und Leipzig („Mind the Map! – History is not given“) oder Priština und Frankfurt am Main („Academy Remix“) sind Kooperationsprojekte entstanden. „Wildes Kapital“ in Dresden leitete die heiße Phase dieser neuen Art des Kulturaustausches ein. Zwischen den anwesenden Künstlern, Architekten, Soziologen und Stadtentwicklern ging es nicht immer harmonisch zu, und das Ordnungsraster „Ost“ versus „West“ war latent präsent. Hier dürfte auch eine große Herausforderung von relations liegen, da die osteuropäischen Teilnehmer viel besser über den „Westen“ Bescheid wussten, als es umgekehrt der Fall war. Interessant war es immer dann, wenn Strategien, künstlerische und politische Interventionsmöglichkeiten im öffentlichen Raum diskutiert und abgeglichen wurden.
Während in den aufgeräumten Zentren Westeuropas nach wie vor jeder Zentimeter reguliert, kontrolliert oder privatisiert wird, regieren in Sofia andere Prioritäten. In ihrem Beitrag zeigte die bulgarische Kulturwissenschaftlerin Milla Mineva Aufnahmen von den Straßen Sofias, auf denen ein einziges Laisser-faire-Prinzip sichtbar wird. Märkte, Kioske, wilde Verkaufsstände bestimmen das postsozialistische Stadtbild, eine unbegrenzte deregulierte Kleinhandelszone ist entstanden. Mehr Regulation und weniger Deregulation? Das ist für die bulgarischen Aktivisten und Urbanisten eine entscheidende Frage. „Alle Diskussionen um städtische Entwicklungen kreisen entweder um die glorreiche Vergangenheit des alten Sofia oder sind auf eine imaginäre Zukunft in der Europäischen Union gerichtet. Doch was ist mit der Gegenwart, was passiert gerade in diesem Moment?“, fragte Mineva.
Diese konstatierte Leerstelle, das auf ein Futurum ausgerichtete Anders-werden-Müssen ist nicht nur für Sofia symptomatisch. Es wird auch ironisch im Titel der gleichfalls von relations geförderten kroatischen Initiative „Zagreb – Cultural Kapital of Europe 3000“ aufgegriffen. Denn, wie Katrin Klingan sagt, es geht relations um Projekte, die für ein Pausemachen und Durchatmen im rasanten Prozess der Transformierung eintreten.