Abgrundtief verdorben

TODSÜNDE UND TUGEND Die Moral macht keine Fortschritte, meint Wolfgang Sofsky und entwirft ein Modell der Laster, das von Gleichgültigkeit bis Grausamkeit reicht

VON RUDOLF WALTHER

Der Göttinger Soziologe und Privatgelehrte Wolfgang Sofsky beginnt sein Buch mit der Beschreibung von Andrea Mantegnas Bild aus dem Jahre 1500, das die Vertreibung der Laster aus dem Garten der Tugend durch die Göttin Minerva zeigt. Minerva heißt in der griechischen Mythologie Athene, die Schutzgöttin Athens, der Künste, der Handwerke, des Krieges und der Vernunft.

Im jüdisch-christlichen Verständnis bildeten Stolz, Habsucht, Neid, Zorn, Unkeuschheit, Unmäßigkeit und Trägheit die sieben Haupt- oder Todsünden. Nach antikem Verständnis galten Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit als die vier Kardinaltugenden. Während sich der Renaissance-Maler Mantegna noch mehr oder weniger strikt an den aristotelisch-jüdisch-christlichen Tugend- bzw. Lasterkatalog hält, kümmert sich Sofsky wenig um die Tradition in seiner Aufzählung von 18 Lastern von der Gleichgültigkeit bis zur Grausamkeit.

Sofskys apodiktische These lautet: „In ihrer moralischen Ausstattung kennt die menschliche Spezies keinen Fortschritt. Daher ist auch kein allgemeiner Sittenzerfall zu diagnostizieren. In moralischen Angelegenheiten gibt es keine besseren Zeiten, weder vergangene noch zukünftige. Woher Sofsky das so genau weiß, verrät er ebenso wenig wie die Gründe für seine 18-stufige Hierarchie von Lastern: „In mehreren Schritten steigert sich die Unmoral von der Gleichgültigkeit und Weichherzigkeit über die Willensschwäche und Zügellosigkeit bis zur Bösartigkeit.“

Geiz ist geil

Sofskys Buch enthält zwar eine vierseitige Liste mit einschlägigen Werken von Aristoteles über Thomas von Aquin und Kant bis zu Peter Sloterdijk, zitiert wird aber nichts und niemand, das oder der Sofskys Laster-Typologie philosophiegeschichtlich untermauern könnte. Sofsky arbeitet mit Setzungen und sein Laster-Katalog hat keine historischen oder sozialen Dimensionen, weshalb er auch nichts dazu beitragen kann, um zu erklären, wie aus der christlichen Todsünde „Geiz“ im Lauf der Jahrhunderte eine Konsumententugend („Geiz ist geil“) werden konnte.

Zu seiner Methode äußert er sich nur en passant an einer Stelle. Er versteht sein Buch als „anthropologische Analyse“, die „Selbst- und Sachverhältnisse“ betrachtet. Das Fundament dieser Betrachtung bilden alte Unbekannte: „der Mensch“, „die Menschheit“ und „man“ – Pseudonyme, hinter denen nichts als die Willkür des Autors steckt. Bei der Darstellung der einzelnen Laster behilft er sich mit schlichten spekulativen Anleihen bei beliebigen Befindlichkeiten wie beispielsweise der Ungerechtigkeit bzw. des Ungerechten: „Allen bleibt er etwas schuldig. Er belohnt keine Verdienste, spendet kein Lob und erteilt keinen Tadel, Versprechen vergisst er, Verträge missachtet er, Entschuldigungen übersieht er.“

Dieser aus freihändig herzitierten Versatzstücken zusammengeklebte Pappkamerad des „Ungerechten“ muss dann herhalten zur Darstellung „der“ Ungerechtigkeit, in deren Bestimmung keine historischen, sozialen oder systematischen Argumente eingehen. Mit einer Ausnahme: Immer wenn sich Sofskys zeit- und ortlose Laster in die Moderne verirren, schwingt ein wohl bekanntes Ressentiment gegen die Demokratie mit. Das hört sich im Falle der Trägheit so an: „Wähler und Mitglieder sollen ausharren und ihren Repräsentanten freie Hand lassen. Ihr Schweigen zählt als Zustimmung, ihre Trägheit als Loyalität. Solange niemand aufbegehrt, ist das demokratische Regime stabil.“

Laster und Demokratie

Auf diese einfache Art macht Sofsky nicht nur das Laster der Trägheit, sondern auch die Laster des Selbstmitleids, der Feigheit, der Torheit, des Starrsinns, der Habgier und der Ungerechtigkeit zu Fundamenten von Demokratie und Moderne.

Zum Ressentiment gegen die Demokratie gesellt sich notorisch elitärer Dünkel und übertroffen wird dieser rechtslastige Gestus dann noch von Sofskys fatalem Hang zu hämmernden Hauptsätzen, die den Eindruck von allgemeiner Geschwätzigkeit verstärken: „Der Alltag ist das Reich der Gewohnheit.“

Im Schlusskapitel über Grausamkeit steigert Sofsky sein Lamento zur Apotheose. Im Paradies des Schreckens versammelt er alle 18 Laster in der „Hölle der Grausamkeit als Institution“, die sich „die Menschen“ – im Unterschied zur christlichen Auffassung – zu ihrem Aufenthalt selbst gewählt haben.

Die Höllenwelt, die Sofsky grell skizziert, gleicht jener Mantegnas – mit einem wichtigen Unterschied: „Fern ist die Göttin der Vernunft, die vor Zeiten das Paradies befreit hat.“ Im Widerspruch zu seiner eingangs zitierten These, es gebe keinen „Zerfall“, kommt Sofskys kulturpessimistisch-postmoderner Botschaft „nur“ die Vernunft abhanden.

Wolfgang Sofsky: „Das Buch der Laster“. C.H. Beck 2009, 272 S., 19,90 Euro