Mieter nehmen’s in die Hand

PRO Die Gentrifizierung bringt Kreuzberg nicht um seine Identität. Im Gegenteil: Der Mythos des Stadtteils lebt auf

VON KONRAD LITSCHKO

Kreuzberg kämpft wieder. Es war sicherlich auch der geplante Protest, der eine Zwangsräumung in der Lausitzer Straße verhinderte. Vorerst. Denn nicht mehr nur die üblichen Autonomen, gleich die ganze Kreuzberger Mischung hatte sich angekündigt, den Zwangsauszug der Familie Gülbol zu verhindern: Punkmusiker und Buchautoren, der Präsident von Türkiyemspor, das Blumenhaus Becker, Abgeordnete von Grünen und Linken.

Einige hatten sich schon vor sieben Wochen vor die Tür der Gülbols gesetzt, beim ersten Räumungstermin. Die Gerichtsvollzieherin zog wieder ab – eine Premiere.

Das Bündnis wurde bereits im Mai geknüpft: Als Anwohner am Kotti einen Protestverschlag errichteten, Studis wie deutschtürkische Muttis. Dort sind sie bis heute. Weil sie alle das gleiche Problem eint: ihre immer teurere Miete. Und weil sie diesmal nicht nach Hause gehen wollen ohne eine Zusage, dass etwas besser wird.

Diese Entschlossenheit, nicht nur zu bitten, sondern etwas durchzusetzen – es ist der, zuletzt etwas blässliche, Mythos Kreuzberg. Im Frühjahr blitzte er wieder auf, als das BMW Guggenheim Lab aus dem Stadtteil verscheucht wurde. Auf dem Oranienplatz ist er anzutreffen, den Flüchtlinge seit Wochen besetzen und nicht eher verlassen wollen, bis der Staat sie besser behandelt. Und er findet sich auch jetzt in der Lausitzer Straße.

Ja, der Ton einiger Widerständler ist bisweilen überspannt. Dahinter steckt aber ein klarer Anspruch: Wir lassen uns die Stadt nicht nehmen! Und wer genau hinschaut, sieht, dass längst nicht mehr der radikalste Rufer, sondern das breite Bündnis die Richtung vorgibt. Aus dem Dagegen ist ein Gestalten geworden. Am Kotti entsteht ein Nachbarschaftstreff, am Moritzplatz werden Brachen begrünt, am Spreeufer Kulturdörfer errichtet. Wo sonst in Berlin wird so viel Stadt gemacht – von unten?

Und bei allen Carlofts und Macchiatos: Sie sind ja noch da, die Alteingesessenen, mit und ohne deutschen Pass, die nicht einsehen, warum sie jetzt gehen sollten. Fast alle Leute, die sie kenne, sagt Atiye Eksi, eine der Kotti-Leute, seien in Kreuzberg. „Warum sollte ich weg?“ Es ist dieses Kreuzberger Beharren, gepaart mit der erneuerten Widerborstigkeit, die der endgültigen Gentrifizierung hier noch ein Schnippchen schlagen kann.

Es war der Kotti, der mit seinem Protest gerade erst eine Mieten-Konferenz im Abgeordnetenhaus erkämpft hat, bei der Instrumente gegen die Verdrängung aufgezeigt wurden. Der Kampf ist also eröffnet. Kreuzberg ist wieder da.

Porträt der Familie Gülbol und Interview SEITE 40, 41