: Minderheit mundtot
Was bedeutet Große Koalition in der Praxis? Im Kieler Landtag zeigt sich, dass eine breite Regierungsmehrheit vor allem vor ernsthaften juristischen Zweifeln der Opposition schützt
von Esther Geißlinger
Dass die LandtagspolitikerInnen Wolfgang Kubicki (FDP), Anne Lütkes (Grüne) und Lars Harms (SSW) sich einig sind, passiert etwa so häufig wie die Landung einer Marssonde auf Eiderstedt. Jetzt aber haben die VertreterInnen der drei kleinen Parteien im Kieler Parlament ein gemeinsames Thema gefunden: Sie fühlen sich in ihrem Recht begrenzt, als Opposition die große Regierungskoalition zu kontrollieren.
Es geht unter anderem um zwei Punkte: Das so genannte „G-10-Gremium“, das unter anderem Telefonüberwachung kontrolliert, und die Möglichkeit, gegen Gesetzesentwürfe der Regierung beim Bundesverfassungsgericht zu klagen.
Im G-10-Gremium sitzt immerhin Kubicki als Oppositionsführer, die Vertreter der übrigen Parteien aber fehlen. Gar nicht möglich ist der Opposition derzeit hingegen der Gang nach Karlsruhe: Ein Drittel des Landtages müsste einer Klage gegen ein Gesetzesvorhaben zustimmen. Das wären in Kiel 23 Abgeordnete – und damit 13 Parlamentarier mehr, als die drei kleinen Parteien dort stellen.
Die Grünen, unterstützt vom Südschleswigschen Wählerverband SSW und der FDP, wollen diese Rahmenbedingungen ändern, aber die Regierungsmehrheit sperrt sich gegen ihr Vorhaben. „Wenn das der Geist der großen Koalition ist, sehe ich nichts Gutes auf uns zukommen – weder für Schleswig-Holstein noch für die Minderheitenrechte im neuen Bundestag“, ahnte die Grünen-Fraktionschefin Anne Lütkes bei der jüngsten Landtagssitzung.
Zwar hatten die Großen im Koalitionsvertrag vereinbart, den Kleinen einige Rechte einzuräumen – aber der SSW-Abgeordnete Lars Harms bezweifelte im Gespräch mit der taz, dass das in der Praxis funktioniert: „Damit wir klagen könnten, müssten sich Abgeordnete der Regierungsfraktionen auf unsere Seite stellen.“ Das sei allerdings höchst unwahrscheinlich, etwa, wenn die Opposition gegen den Haushaltsplan vorgehen wollte.
Zwar darf jeder Normalbürger das Bundesverfassungsgericht anrufen, wenn er von einem Gesetz seine Grundrechte eingeschränkt sieht. Eine Fraktion oder parlamentarische Gruppe, wie der SSW sie stellt, hat dieses Recht aber nicht. Grund: Sie ist nicht persönlich von einem Gesetz betroffen. Als Teil des parlamentarischen Systems und als Kontrollorgan der Regierung müsse eine Fraktion aber klagen dürfen, meint Anne Lütkes: „Doch wenn die Hürden so hoch gelegt sind, dass die Opposition sie nicht nehmen kann, dann steht über der Regierungsmehrheit nur noch der blaue Himmel.“
SPD-Fraktions-Chef Lothar Hay hat zwei Gegenargumente: Erstens könne es sein, dass wieder eine rechte Partei ins Parlament einzieht – und die solle nicht gegen jeden Regierungsbeschluss vor Gericht ziehen können oder mit im G-10-Gremium sitzen. Zweitens: „Es ist der Versuch, vor Gericht etwas zu erreichen, was politisch nicht geht“ – also Entscheidungen aus dem Parlament zu holen und die Richter machen zu lassen.
Zum ersten Punkt erklärte Wolfgang Kubicki im Landtag: „Das ist wenig selbstbewusst. Wer schon Schutzmechanismen im Vorwege einbaut, um einem möglichen Einzug entsprechender Gruppierungen vorzubauen, der wertet sie nur auf.“ Es gibt auch den Vorschlag, dass mindestens zwei Fraktionen sich für eine Klage zusammentun müssten. Zum zweiten Argument erklärt Lars Harms: „In Schleswig- Holstein waren wir immer sehr vorsichtig, was Klagen angeht. Aber es muss diese Möglichkeit für schwierige Situationen geben.“ Denn es ginge nicht darum, „der Regierung an den Karren fahren, sondern um Inhalte.“ Große Koalitionen seien eben Notlösungen und im politischen System eigentlich nicht vorgesehen, meint Harms: „Aber auch darauf und auf entsprechend kleine Oppositionen muss man vorbereitet sein.“ Das ist der Landtag offenbar ebenso wenig wie der Bundestag.
Angesichts des – gestern beendeten – Berliner Hickhacks bedauert Harms, dass der SSW keinen Kandidaten für den Bundestag hatte: Vor der Wahl hatte er dafür plädiert, erstmals seit Jahrzehnten wieder anzutreten – doch die Gremien der dänisch-friesischen Minderheiten-Partei hatten abgewunken. Zwar hätte ein Einzelkämpfer aus dem Norden im Machtpoker wohl keine Rolle gespielt, so Harms. Aber er hätte seine Stimme für die Minderheiten erheben können.