: Die Welt ist eine Bastelstube
Die Knetfiguren sind wieder da: „Wallace & Gromit auf der Jagd nach dem Riesenkaninchen“ ist der tollste Abenteuerfilm der Saison. Was den Detailreichtum und die Figurenzeichnung angeht, lässt dieser Stop-Motion-Trickfilm aus dem Hause Aardman Animations den Realfilm schlecht aussehen
von ANKE LEWEKE
Es ist ein Hund, ein gekneteter Hund mit Schlappohren und großen Augen, der den schönsten Kino-Stunt seit langem hinlegt. Mit einem spektakulären Ritt auf einer gigantischen Zucchini versetzt er den Zuschauer in helle Aufregung. Es ist eine dürre Frauengestalt, eine Puppe mit skelettartigen Armen und schimmelgrünem Teint, die eine so hinreißende Liebeserklärung ausspricht, dass der Zuschauer über ihr hässliches Äußeres hinwegsieht und einer zarten Seele begegnen wird.
Die Rede ist von den Animationsfilmen „Wallace & Gromit auf der Jagd nach dem Riesenkaninchen“ und „Tim Burton’s Corpse Bride“ (Kinostart: 3. November 2005). Von Plastilinfigürchen und Puppenwesen, die uns ungleich mehr als ihre echten Kollegen rühren. Warum ist „Corpse Bride“, diese morbide Liebesgeschichte zwischen einer Untoten und einem schüchternen Jüngling, ein so herzergreifendes Melodram? Und das erste abendfüllende „Wallace & Gromit“-Werk ein wahrhaft abenteuerlicher Abenteuerfilm?
Man bangt und zittert um den heldenhaften Hund, der auf Turmspitzen, in Nagetiertunneln und mit Spielzeugflugzeugen unter Einsatz des eigenen Lebens das seines Herrchens verteidigt. Und sorgt sich um Wallace, der seine geliebten Cheddarschnitten links liegen lässt, um Möhrchen zu mümmeln. Den Kampf gegen ein bösartiges, als Pinguin verkleidetes Huhn („Die Techno-Hose“), gegen Käseknappheit („Alles Käse“) und gegen perfide Schafsmörder („Wallace & Gromit unter Schafen“) haben die beiden schon gewonnen. Nun müssen sie gegen ein monströses Kaninchen antreten, dessen Hoppeln eine gesamte Kleinstadt zum Beben bringt und dessen zügelloser Appetit das liebevoll gezüchtete Gemüse einer verschreckten Gärtnergemeinde bedroht. Dabei findet am nächsten Wochenende der Gemüsewettbewerb statt! Die schönste Ernte soll mit der goldenen Karotte durch Lady Tottington geehrt werden.
Wallace und Gromit, aber auch Tim Burtons Puppen mit den viel zu langen Gliedmaßen und den bleichen Gesichtern sind real characters, sympathische Exzentriker, ausgeprägte Persönlichkeiten, wie man sie immer seltener im Genrefilm findet. Paradoxerweise wirken diese Wesen, die rein artifiziellen Welten entstiegen sind, dennoch um so vieles lebendiger, wahrhaftiger und ergreifender als die meisten ihrer menschlichen Kollegen. Mag sein, dass man sich in Zeiten, da der Realfilm von Spezialeffekten und Dramaturgie-Recycling erstickt wird, besonders zu den liebenswerten Kunstgeschöpfen hingezogen fühlt.
Natürlich brauchen diese Kreaturen Erfinder, die sie hegen und umsorgen, die eine Umgebung für sie kneten und basteln, in der sie ihre Besonderheiten und Macken ausleben können. Tatsächlich leben Wallace und Gromit in einer Welt der mimetischen Angleichungen, die Nick Park und Steve Box nur für sie und ihre Bedürfnisse erschaffen haben. Gromit wohnt in einem Zimmer, auf dessen Tapete Hundeknochen abgebildet sind. An der Wand prangt sein Abschlussdiplom von der Dogwarth-Universität. Und der erfindungsreiche und zugleich äußerst bequeme Wallace hat sich einen wunderbar mechanisierten Alltag ersponnen, in dem er zwischen Teatime mit Crackern und ausführlichen Nickerchen nur noch die allernötigsten Bewegungen verrichten muss. Auch diesmal katapultiert ihn seine voll automatisierte Weckeinrichtung gestriegelt und gekämmt an den von Gromit liebevoll gedeckten Tisch.
Für diesen Engländer im grünen Pullunder ist die Welt eine Mischung aus Bastelstube und privatem Versuchslabor. In „Wallace & Gromit auf der Jagd nach dem Riesenkaninchen“ sind es kuriose Erfindungen wie etwa der B-6000 Kaninchenstaubsauger, die Katastrophen- und Abenteuerszenarien hervorbringen und beschleunigen. In einer Art Kettenreaktion setzen sie Motive aus „King Kong“, „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ und Werwolf-Filmen frei. Die Größe von „Wallace & Gromit“ besteht auch darin, dass ihre Knetwelten, die vom britischen Understatement zusammengehalten werden, existenzielle Themen ganz nebenbei verhandeln. Im neuen Film geht es zwischen Monsterjagd und Gemüseschutz auch um Lynchjustiz, Kaninchenresozialisierung, Bigotterie und Homosexualität unter Hunden.
„Wallace & Gromit auf der Jagd nach dem Riesenkaninchen“, Regie: Steve Box, Nick Park. Animationsfilm, Großbritannien 2005, 94 Min.