: Übergänge ins Nichts
Zu viel und zu wenig zugleich: „Glut“, dem neuen Film von Fred Kelemen, fehlt die Kraft der Evokation
Es ist Nacht in Riga. Ein Mann geht über eine Brücke. Eine Frau steht am Geländer, er geht vorüber. Ein Schrei, sie ist ins Wasser gesprungen, er rettet sie nicht. Er ruft die Polizei, wartet. Der Polizist interessiert sich kaum, kommt ihm nur mit der Selbstmordstatistik in dieser gottverlassenen Gegend der Welt. Dies ist die Ausgangslage von Fred Kelemens neuem Film „Glut“. Auf diese Eröffnung folgt eine Obsession, die man psychologisch lesen kann: als Schuldgefühl. Der Mann, er heißt Matiss Zelcs (Egon Dombrovskis) und arbeitet als Archivar, begibt sich auf die Spur des Lebens der Frau (Aija Dzerve), deren Sprung von der Brücke er nicht verhindert hat. Er kehrt zurück auf diese Brücke, als gelte es, ihre Witterung aufzunehmen. Er findet in der Bar, in der sie den letzten Abend verbracht hat, Abschiedsbriefe, die sie nicht abgeschickt hat, Fotografien. Diese Fotografien deuten auf eine Dreiecksgeschichte. Matiss sucht und findet den Geliebten der Frau, sie sprechen, sie trinken. Wir erleben die Rekonstruktion einer fatalen Liebesgeschichte. Und nichts ist, wie es schien.
„Glut“ ist ein Film Noir. Ein Mann verfällt einer Frau, genauer gesagt: seiner eigenen Projektion, und sieht sich, nicht ohne eigene Schuld, in dieser Projektion getäuscht. Auch in einem viel buchstäblicheren Sinne ist „Glut“, in kurzer Zeit und abseits deutscher Filmförderung entstanden, auf Digitalvideo gedreht, ein schwarzer, ein nachtdunkler Film. Oft teilt das grobkörnige Bild sich in schwarze und graue Flächen, gibt kaum Informationen preis und hüllt die Welt, die er zeigt und zu zeigen verweigert, in eine immer auch symbolisch lesbare Finsternis. Es ist Kelemens erster Schwarzweiß-Film, er selbst hat dazu gesagt: „Ich habe schon immer Schwarzweiß-Filme gedreht, nur eben in Farbe. Diesmal habe ich auf die Farbe verzichtet.“
Der Film sucht aber nicht die Klarheit der Differenz von Schwarz und Weiß, sondern die Übergänge ins Nichts, das in der Schwärze liegt. Das Bild zieht sich zurück, wird opak, weist den Blick nicht zurück, aber bietet sich ihm so dar, dass er ins Gleiten gerät.
Bewusst kehrt in diesen Momenten Kelemen das im Kino gewohnte Bild-Ton-Verhältnis um, rückt die Geräusche in den Vordergrund, die so ein Eigenleben gewinnen, auch weil im Rahmen des Bildes nichts zu sehen ist von dem, was man hört. Das Bellen von Hunden etwa, minutenlang, als Ton, der sich festsetzt in den geduldigen und störrischen Plansequenzen, aus denen der Film besteht.
Leider aber wollen die Dunkelheiten in „Glut“ nicht zu einer überzeugenden Atmosphäre zusammenfließen. Es ist immer zu viel da und zu wenig zugleich: Zu viel Plot dafür, dass der Film an ihm kein wirkliches Interesse entwickelt. Zu viele Worte auch dafür, dass er auf das Schweigen und die Geräusche setzt. Und zu wenig Zeit, alles in allem, für die langen Sequenzen, in denen wenig und dann doch zu viel geschieht. So zwingend der Beginn von „Glut“ sein mag, so entstehen auf die Dauer störende Interferenzen zwischen Sehen und Nichtsehen, Geschehen und Nichtgeschehen. Kelemen lässt sich nicht geduldig genug ein auf die Figuren, auf deren Suchen und Leiden.
Und er verfällt immer wieder auf nahe liegende Klischees. Die Verlassenheit von Straßen und Gassen, das Trinken, das Schweigen, ein ins allgemein Menschliche generalisiertes Osteuropa. Und wenn Matiss und der Geliebte der Frau sich in der Kneipe begegnen, kreist die Kamera mehrfach um die beiden: eine grobschlächtige Ausdrucksbewegung. Von der Subtilität von Kelemens Lehrer, dem großen ungarischen Regisseur Béla Tarr, ist an solchen Stellen keine Spur mehr.
So passiert, was keinesfalls passieren darf: Die Stimmung, die der Konstellation von Bild, Ton, Bewegung des Blicks und der Figur im Raum entspringen müsste, scheint dem Film oktroyiert, eine Idee, die hineingelegt wird und nicht als zwingendes Ergebnis sich aufdrängt. Es bleibt deshalb auch kaum ein Nachhall der Bilder. Der Blick gleitet an ihnen entlang, aber sie haben die Kraft der Evokation nicht, die Kelemen ihnen zutraut und zumutet. Die Bedeutung, die sie haben sollen, nimmt ihnen diese Kraft. So ist es die Kluft zwischen dem reinen Bild und der Idee, die es verkörpern soll, an der „Glut“ zuletzt scheitert.
EKKEHARD KNÖRER
„Glut“, Regie: Fred Kelemen. Mit Aija Dzerve, Egon Dombrovskis, Nikolaj Korobov u. a., Deutschland/Lettland 2005, 90 Min.