Berliner Platten : Treudeutsche Fragen: Mit Herr Spin darf man sich darüber wundern, was den Schlager zum Schlager macht, und Boris Steinberg schummelt sich ein wenig raus aufs Chanson
Sie macht Spaß, die neue Platte von Herr Spin, und vielleicht ist sie auch nur ein Spaß. So genau weiß man das nie bei dem Westfalen in Berlin (in dessen Umfeld Die Türen beheimatet sind). Jedenfalls ist „Sekunden“ schon so eine Testplatte, an der man die alte Frage schärfen kann, was denn überhaupt den Schlager zum Schlager macht. Auch deswegen, weil Schlager weiter gern als Argument in die Runde geworfen wird, um selbst dem schönsten Lied die Kehle aufzuschlitzen.
Der deutsche Zungenschlag in den Texten allein kann es ja nicht sein, und auch nicht, dass halt über Gefühle gesungen wird, was der Herr Spin gewitzt genug macht („ich will nur genug“). Oder dass lieber zur naheliegenden, die Ohren schmeichelnden Melodie gegriffen wird und man überhaupt vom musikalischen Konfekt nascht. Hier und da darf man Kitsch dazu sagen, und natürlich sind die Kuchenstücke mit der Extraportion Butter ausgebacken. Was der Herr Spin in seinem Heimstudio alles selbst gemacht hat, und dennoch klingt „Sekunden“ wie eine der handelsüblichen Großproduktionen.
Das alles kann es nicht wirklich sein, was den Schlager zum Schlager macht. Das grenzt ihn nicht ab von der internationalen Pop-Produktion – womit man der Sache schon deutlich näher gerückt ist. Denn es muss vielleicht einmal daran erinnert sein, dass der deutsche Schlager zu seiner größten Zeit (den Siebzigern) vor allem Übersetzungsverhältnisse umschrieb. Zuallererst ganz direkt: Michael Holms „Mendocino“, Jürgen Drews’ „Bett im Kornfeld“ oder Bernd Clüvers „Junge mit der Mundharmonika“ – das waren alle ins Deutsche übertragene Songs. Und der Versuch, vor allem angloamerikanischen Swing und Soul für die ZDF-Hitparade zurecht zu machen.
Solche Prozesse reflektiert auch „Sekunden“, wobei Herr Spin mit allen internationalen Pop-Wassern gewaschen genug ist, um nicht den „richtigen“ Schlager ehrenzuretten, dem er glücklicherweise aber immer noch näher steht als zum Beispiel dem neuen Schaffen von Blumfeld, die mit ihren Innerlichkeiten einem einen Gefühlskitsch aufschwatzen, den ich mal als den „wirklichen“ neuen deutschen Schlager nennen möchte. Wer jedenfalls seine Rocko-Schamoni-Platten lieb hat, mag seinen Gefallen auch an Herr Spin finden und wird feststellen, dass das Augenzwinkern gar nicht immer so bemüht sein muss.
Und weil noch ein wenig Platz hier ist: Gar nicht Schlager. Was anderes. Auch Deutsches. Boris Steinberg, jahrelang auch Veranstalter des Berliner Chansonfestes, hat eine neue Platte gemacht und verrät einem zum Beispiel: „Leben gibt’s nicht zu kaufen / auf Ebay oder im Supermarkt“. Nun ja, eher knorrige Poesie aus der Liederwerkstatt, vorgetragen mit Inbrunst-Timbre, und die Musik auf „Von Sommergold und Winterblau“ (www.boris-steinberg.de) will von angloamerikanischen Folkweiten träumen. Und klebt hart auf dem meist doch eher traurigen Boden deutscher Liedermacherzunft. Um sich die Sache übersetzt schicker zu schummeln, darf man auch Chanson dazu sagen. THOMAS MAUCH