SONJA VOGEL LEUCHTEN DER MENSCHHEIT
: Das Manifest geht um in Europa

Krisen, so weit das Auge reicht. In den arabischen Ländern: Revolten, Umstürze. In Europa aber? Da schreibt man Manifeste. Stéphane Hessels „Empört Euch!“ oder „Der kommende Aufstand“. Genutzt hat es nichts: immer noch Kapitalismus, immer noch Krise.

Heute zeigt sich im Manifest vor allem eins: die Partikularität der politischen Utopie. Das europäische Manifest ist ein Symptom für den Verlust seines Subjekts. Seine Logik ist meist bestechend simpel: Hier ein Fünkchen gesunder Menschenverstand und dann das Übel an der Wurzel gepackt: hau ruck! Noch einfacher: Der Kapitalismus „hat alles vorbereitet, dass wir ihn überwinden“. So steht es im Manifest. Nicht aber im „Kommunistischen Manifest“ – Marx glaubte ja, der Kapitalismus habe sich mit dem Proletarier seinen Totengräber geschaffen –, sondern in „Die libertäre Gesellschaft. Grundrisse einer freiheitlichen und solidarischen Gesellschaft jenseits des Kapitalismus“ (Die Buchmacherei, Berlin 2012) von Gerd Stange.

Auf der Suche nach Vorbildern sucht er tief in der Mottenkiste: die Pariser Kommune, die spanischen Kollektivierungsversuche um 1936. Bevor Sie auf Ihrem Smartphone suchen: gemeint sind auf Allmende und Selbstverwaltung aufbauende Projekte wie Wikipedia – nur eben vor 100 Jahren, mit analoger Crowd. Und die kommende? Die wird noch immer mit „Wir“ umfasst – diesem verflixten Teufel, der, wie man spätestens seit der feministischen Kritik am vereinnahmenden Gestus der Frauenbewegung weiß, Identität über den Ausschluss schafft. „Wir wollen eine libertäre Gesellschaft“, steht da, und „wir“ wollen Selbstverwaltungseinheiten von maximal 125.000 EinwohnerInnen. Das urbane Zentrum, heruntergebrochen auf die Kleinstadt? Ein Albtraum. Doch für Stange ist die Hauptsache: Kreuzberg bleibt Kreuzberg. Im Dorf wird man sich schon einig, welche Form der Brotlaib der Zukunft haben wird.

Dass eine hoch spezialisierte Welt nicht wie der WG-Putzplan läuft, nach dem jeder mal den Besen schwingt: geschenkt. Unverzeihlich ist es aber, im 21. Jahrhundert ohne kritische Einordnung der eigenen Sprechposition über die Gesellschaft nachdenken zu wollen. Hier schreibt einer für sich im Namen aller. Nach der Lektüre eines solchen utopischen Manifests weiß man vor allem, was man nicht will: solche Manifeste.

■ Die Autorin ist ständige Mitarbeiterin der taz-Kulturredaktion