„Warum geradlinig erzählen?“

KINO Ein Gespräch mit dem portugiesischen Regisseur Miguel Gomes über seinen Film „Tabu“, den Kater vor dem Besäufnis und Obama-T-Shirts in den 60er Jahren

■ Der Regisseur: geboren 1972 in Lissabon. Von 1996 bis 2000 studierte er an der Escola Superior de Teatro e Cinema.

■ Die Filme: Gomes drehte mehrere Kurzfilme, bevor er 2004 seinen ersten langen Spielfilm „A cara que mereces“ vorlegte (Das Gesicht, das du verdienst). 2008 folgte „Aquele querido mes de agosto“ (Jener geliebte Monat August). „Tabu“ (2012) lief im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale.

INTERVIEW CRISTINA NORD

„Tabu“ war der schönste Film der vergangenen Berlinale: eine Hommage an den Stummfilm, gedreht in betörenden Schwarz-Weiß-Bildern, zum Teil mit einer Musik unterlegt, wie sie ein Pianist vor 90 Jahren hätte einspielen können. Im Prolog bietet sich ein Entdecker einem Krokodil zum Fraß an, nachdem ihn der Tod seiner Frau um alle Lebensfreude gebracht hat. Im ersten Teil leidet Pilar, eine 60 Jahre alte Frau im Lissabon der Gegenwart, an Schwermut und Helfersyndrom, während ihre Nachbarin, die Greisin Aurora, im Sterben liegt. Der zweite Teil springt zurück in die frühen 60er Jahre, als Aurora in einem nicht näher genannten afrikanischen Land, am Fuß des Mount Tabu, eine Amour fou lebt. Der Film läuft am Donnerstag an, eine ausführliche Besprechung folgt.

sonntaz: Herr Gomes, in Paris gab es vor einer Weile eine Ausstellung über die Völkerschauen des 19. Jahrhunderts. Eine These der Kuratoren war: Als das Kino aufkam, verlor das Publikum die Lust an diesen Schauen. Klingt das nachvollziehbar?

Miguel Gomes: Das Kino entstand ja als Fortsetzung des Zirkus und des Jahrmarkts. Wenn es wirklich die Völkerschauen ablöste, dann hat es ein gutes Werk verrichtet. Denn das Kino kann niemals so sehr degradieren wie eine Völkerschau, die wirkliche Menschen ausstellt.

Aber das Kino hat ein riesiges Interesse an exotischen Schauplätzen, besonders an Afrika. Das gilt ja auch für Ihren Film.

Es gibt etwas, was das Kino schon immer beschäftigt hat und immer beschäftigen wird: die Idee der Natur und der Grenze, der Aneignung von Raum. In den USA wird das im Western verhandelt. Portugal ist ein kleines Land, und in unserer Vorstellung nehmen Afrika und die Kolonien den Ort des Westerns ein, diese entlegenen, exotischen Länder. Während der Zeit des portugiesischen Faschismus hatten wir ein anachronistisches System; wir waren das letzte Land in Europa, dessen Kolonien unabhängig wurden. Der zweite Teil meines Films spielt, kurz bevor die Unabhängigkeitskriege ausbrechen werden, zu einem Zeitpunkt, als klar ersichtlich ist, dass sich das Kolonialsystem nicht halten wird. Genauso wie die Liebesgeschichte im Film nicht von Dauer sein kann.

Dass sowohl die Amour fou wie das Kolonialsystem am Ende sind, ist einer der Spiegeleffekte in Ihrem Film – aber nicht der einzige, oder?

Im ersten Teil des Films spürt man ein Unbehagen, ein Schuldgefühl. Die zentrale Figur, Pilar, ist Katholikin, sie engagiert sich; auf ihre katholische Weise geht sie mit der Schuld in der Gesellschaft um, das bleibt aber eher vage. Im zweiten Teil, in Afrika, sieht man dann die konkreten Handlungen, und man begreift, warum Aurora sich schuldig fühlt. Der erste Teil ist wie ein Kater, der zweite wie ein Besäufnis. Das Trinken ist immer schon getrübt vom Kater. Daraus leiten sich auch die Melancholie und die Traurigkeit des Films ab. Im zweiten Teil geht es ja ausgelassen zu, junge Leute vergnügen sich, sie haben Sex, aber es ist getrübt davon, dass wir aus dem Off die Stimme des alten Ventura hören. Wenn Auroras Liebesbrief aus dem Off vorgetragen wird, dann hören wir die Stimme der alten Aurora, nicht die der jungen, wie ein Dialog zwischen einer Toten und einem Todgeweihten.

Eine Geistergeschichte – aber eben nicht nur, es gibt ja neben der Melancholie auch die Heiterkeit.

Der zweite Teil des Film beginnt damit, dass Aurora durch ihr Wohnhaus joggt, während die afrikanischen Hausangestellten den Boden wischen. In dem Augenblick kommt der Schriftzug „Paradies“ ins Bild. Das ist natürlich ironisch. Zugleich sind es für Aurora tatsächlich die guten Tage, ihre Jugendzeit. Die Dinge sind ambivalent, und für mich wird das Kino dort interessant, wo unterschiedliche Gefühle aufeinanderprallen. Komödie und Drama, Gefühl und kritische Distanz.

Die Filmgeschichte spielt in „Tabu“ eine wichtige Rolle.

Um ehrlich zu sein, spielen einzelne Filme für mich eine größere Rolle als die Filmgeschichte, ich bin da sehr unsystematisch und irrational. Mein Film heißt „Tabu“, weil Murnaus Film zum Schönsten gehört, was die Menschheit je hervorgebracht hat. „Tabu“ steht für die Schönheit des Kinos, des Stummfilms, für eine Schönheit, die wir so heute nicht mehr erreichen.

Wie ein verlorenes Paradies?

Kürzlich hat mir jemand gesagt: Das Paradies existiert nur in der Erinnerung. Und ich glaube, das stimmt. Es ist wie die Erinnerung daran, wie es war, als ich zum ersten Mal diese Filme guckte, als das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Portugal diese Filme zeigte, ohne dass die Zuschauer sich beschwert hätten: Was ist denn mit dem Ton los? Und mit den Farben? Es war unglaublich, mit 14, 15 „Nosferatu“, „Tabu“ und „Sunrise“ zu sehen.

Vor ein paar Jahren gab es beim Wiener Filmfestival Viennale eine Retrospektive mit US-amerikanischen Komödien. Unter anderem liefen Laurel-und-Hardy-Filme, die ich als Kind geliebt habe. Sie wiederzusehen, war wie eine Wiederaneignung der Kindheit.

Das Kino ist eng mit der Kindheit verbunden. Und mit Träumen. Ein Film schließt ja mit dem Zuschauer eine Art Vertrag ab: Das, was man sieht, ist nicht die Wirklichkeit, aber man kann trotzdem etwas damit anfangen. Dieser Vertrag ermöglicht es, sich Gefühle und Eindrücke wieder anzueignen, die verloren gegangen sind.

In Ihrem Film „Aquele querido mes de agosto“ haben Sie Myriaden von Geschichten untergebracht, in „Tabu“ sind es weniger, aber immer noch recht viele. Woran liegt das?

Eine meiner Obsessionen sind „Die Geschichten aus 1001 Nacht“. Die habe ich etwa zu der Zeit gelesen, als ich Murnaus Filme im Fernsehen sah. Es ist ein Buch über die absolute Notwendigkeit von Fiktion. Wenn Scheherazade zu erzählen aufhörte, ließe der Prinz sie hinrichten. Deswegen verbergen sich in den einzelnen Geschichten neue Geschichten und darin wieder neue Geschichten. Warum also sollte ich geradlinig erzählen? Wenn mir Leute sagen: Hey, das sind zu viele Geschichten, dann sage ich: Das ist, als wollte man Mozart sagen, er verwende zu viele Noten in seinen Kompositionen.

Wie kommen Sie denn zu den Geschichten?

Ich häufe Dinge, Ideen, Dialoge an, über die Jahre hinweg. Auch Musikstücke. Was mir im Gedächtnis bleibt, wird sich irgendwann verwandeln und mit den anderen Fundstücken korrespondieren. In „Aquele querido mes de agosto“ etwa spann der zweite Teil fort, was im ersten Teil vorkam. Diesmal ist es anders: Der zweite Teil tritt eher in Opposition zum ersten. Ich wollte ein binäres Schema, ähnlich wie bei Murnau. Einfache, antagonistische Dinge, Licht und Schatten, Stadt und Land, Paradies und verlorenes Paradies.

Es mögen simple Oppositionspaare sein, aber Ihr Film erscheint mir alles andere als simpel.

Alle Filme, die ich liebe, etwa die von John Ford, arbeiten mit mythischen Dingen. Gute Regisseure benutzen binäre Oppositionen, Gut und Böse, und zwar nicht nur als Idee, sondern auf eine sehr materialistische Weise.

„Haben wir das Recht, eine koloniale Gesellschaft zu rekonstruieren?“

Könnten Sie genauer beschreiben, was Sie damit meinen?

Das Kino hat für mich viel mit einer Geisterbeschwörung zu tun, zugleich gibt es eine materielle Welt, die vor dem Kino da war und nach dem Kino weiterhin da sein wird. Eine physische Verbindung zu Dingen, Menschen, Orten, Architekturen, und man muss versuchen, dieses Material zu spüren und zu filmen.

Sie haben in Mosambik gedreht, aber im Film ist es ein nicht genauer bezeichnetes Land. Warum?

Weil ich keinen historisch akkuraten Zugang wählen wollte; das koloniale Thema sollte an keine konkrete Realität gebunden sein. Wenn zum Beispiel die Trennung von Aurora und Ventura damit einhergeht, dass die Guerilla ein Bekennerschreiben lanciert, dann hat das so natürlich nie stattgefunden.

Wie war es denn, in Mosambik zu drehen?

Sehr aufregend und sehr hart. Es gibt dort nicht viel Infrastruktur, die man nutzen kann. Keine Hotels, keine Restaurants. Vor zehn Jahren noch galt Mosambik als eines der ärmsten Länder der Welt. Die Spuren des Kriegs sind auf eine sehr materielle Art sichtbar. Und zwar nicht nur die Spuren des Unabhängigkeitskriegs, der 1974, nach der Revolution in Portugal, endete, sondern auch die des Bürgerkriegs, der in den 90er Jahren wütete. Die Szene, in der Aurora Mario tötet, findet ja, sagt die Stimme aus dem Off, in einem aufgelassenen Haus statt. In Wirklichkeit ist das eine Schule, zum Teil sind die Mauern eingestürzt, aber die Kinder gehen jeden Tag dorthin. Deswegen sieht man Kinderzeichnungen. Es ergab sich daraus eine ethische Frage: Inwiefern haben wir das Recht, eine koloniale Gesellschaft zu rekonstruieren, noch dazu an einem Ort, wo die Leute Hunger leiden?

Und wie war Ihre Antwort?

Die Antwort lag in unserem Versuch, der materiellen Wirklichkeit dieses Ortes gerecht zu werden. Wenn Leute Obama-T-Shirts trugen, dann habe ich gesagt: Lass uns das filmen. Normalerweise hätte jemand eingewendet: Das geht nicht, der Film spielt in den 60er Jahren! Mir ist das gleich; der Film funktioniert auf einer emotionalen Ebene, ohne dass deshalb die äußere Wirklichkeit verleugnet wird. Und die ist: Mosambik im Jahr 2011.