Über den Grenzen

Raffiniertes Märchen für Erwachsene: Antje Wagners Roman „Hinter dem Schlaf“

Eine Landkarte kann man knicken, und auf einmal liegen zwei weit entfernte Punkte direkt übereinander. Stößt man mit einem Stift durch das Papier, hat man einen Tunnel geschaffen, der keine Länge hat und doch eine große Strecke überwindet. In ihrem neuen Roman „Hinter dem Schlaf“ ersinnt Antje Wagner eine Welt, in der man das Gleiche mit dem wirklichen Raum machen kann, und auch die Struktur ihres eigenen Textes folgt einem ähnlichen Konstruktionsprinzip. Die Erzählchronologie wird von Wagner in sich gefaltet zu unmöglichen Figuren, die wie Treppen sind, die, in sich selbst gewunden, keinen Anfang und kein Ende haben.

Der Roman beginnt daher auch mittendrin, mit einem rätselhaften Tableau, das erst einmal an den Anfang einer „Akte X“-Folge denken lässt. Patrick erwacht in seinem Auto an einer Tankstelle. Die Frau, mit der er eben noch unterwegs war, ist verschwunden. Patrick wird sich aufmachen, sie, von der er nichts als den Vornamen weiß, im nahen Hamburg zu suchen, und seine Erinnerung trägt uns dabei zurück zu dem Ort, an dem er Anne kennen gelernt hat.

Auf der Flucht vor seinem bisherigen Leben in einer schal gewordenen Ehe gerät der Biologe zu einem Haus, das es eigentlich nicht geben dürfte, denn es steht mitten in Norddeutschland auf einem dreitausend Meter hohen Berg, umgeben von endlosen Eismassen. Drinnen scheint Anne schon lange auf ihn gewartet zu haben, doch sie verwechselt ihn mit jemandem, den sie Pierre nennt. Patrick bleibt lange in diesem Haus, und er hört dort die Geschichte von Lena, die er statt Anne in Hamburg finden wird. Was hat Patrick mit Pierre zu tun? Und sind Lena und Anna dieselbe Person?

Bereits im Zusammenhang mit ihrem letzten Erzählband „Mottenlicht“ hat Antje Wagner in einem Interview als ihr wichtigstes Thema Grenzüberschreitungen genannt. Waren das in den Erzählungen noch Verbrechen oder Gewalttaten, die der Text selbst durch Nichterwähnung auszugrenzen versuchte, werden in „Hinter dem Schlaf“ alle Grenzen derart porös, dass sie bald jegliche Bedeutung verlieren. Es geht in Wagners Roman um Identität, um die Suche danach. Ihre Figuren verlieren sich selbst und versuchen stattdessen so verzweifelt wie beharrlich, jemand anderem auf den Grund zu gehen.

Man kann diese Sehnsucht danach, den anderen zu finden und zu begreifen, mit Liebe in Verbindung bringen, aber so eine simple Gleichung ist bei Wagner eher unangebracht. Mit „Hinter dem Schlaf“ hat sie ein modernes, vor allem aber ein raffiniertes Märchen für Erwachsene geschrieben, in dem Traumwelten keine eskapistische Flucht vor dem Leben sind, sondern nur eine andere Art, mit diesem konfrontiert zu werden. SEBASTIAN DOMSCH

Antje Wagner: „Hinter dem Schlaf“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005, 271 S., 18,90 Euro