: Die Fronten sind dicht
Irina Roerig und Kristo Sagor geht es in ihrer Tanzoper „Hautkopf“ um das gesellschaftliche Versagen gegenüber Neonazis – aber über den Schauwert martialischer Körper kommen sie oft nicht hinaus
VON AXEL SCHOCK
Wer sich mit künstlerischen Mitteln dem Phänomen des Rechtsradikalismus unter Jugendlichen nähert, nach Ursachen oder gar nach Lösungen sucht, gerät schnell in die Kitschfalle. Überall lauern Klischees, locken vorschnelle Vereinfachungen. Aber muss einem Theaterstück oder Film tatsächlich in zwei Stunden gelingen, woran Politiker, Sozialarbeiter und Soziologen seit Jahren scheitern?
Vor allem aber: Welchen Abstraktionsgrad muss ein Bühnenstück besitzen? Oder, im Gegenzug, welche Authentizität muss es vermitteln, um dem Thema adäquat näher zu kommen, ohne sich mit schlichter Abbildung zu begnügen? Andres Veiel hat sich bei seinem im April fürs Maxim-Gorki-Theater produzierten Drama „Der Kick“, das den gemeinschaftlichen Mord dreier jugendlicher Skinheads im uckermärkischen Dorf Potzlow 2002 rekonstruiert, für ein völlig zurückgenommenes Dokumentartheater im Stile von Peter Weiss’ „Die Ermittlung“ entschieden. Das hieß, sich ein radikales Bilderverbot verordnen: Für die Rezitation seiner Gesprächsprotokolle mit Tätern und Opfern, Eltern und Angehörigen genügten ihm eine Darstellerin und ein Darsteller.
Irina Roerig ist in ihrer „Tanzoper“ einen anderen ästhetischen Weg gegangen. Um die ausbrechenden Aggressionen, die Faszination an der Gemeinschaft und der gemeinschaftlichen Überschreitung gesellschaftlich gesetzter Grenzen, auch den Rausch des Herrenmenschen-Gefühls darzustellen, versucht die Choreografin einen im ersten Moment widersprüchlichen Spagat. So bleibt das Outfit der Skinhead-Neonazi-Clique stets authentisch, und auch ihre Rangeleien untereinander, ihr kraftmeierisches Auftreten gegenüber Anderen wirken äußerst überzeugend. Zugleich aber macht Irina Roerig das martialische Gehabe für sich zum choreografischen Material: Dann rempeln Jäger (Markus Düllmann), Nuss (Eva Maurischat) und Kehl (Lance Hendrix) sich beim Pogotanz über den Haufen, fighten die Kerle um die Führung der Gruppe, lassen sie ihren Frust und Hass an einem arabischen Putzmann, später an einer Obdachslosen mit harten, tödlichen Fußtritten aus. Komponist Winfried Radekes lässt dazu mit harten Anschlägen schnelle Tonfolgen über die Tasten eines Pianos laufen und zugleich die Pianosaiten mit einem Paukenschlegel bearbeiten.
Diese sportiven Szenen haben, und das mag im Gesamtkontext tatsächlich ein Problem sein, enormen Schauwert. Die Kämpfe sind wie Stunts, und die Meute türmt sich mit gerecktem Arm zu heroischen Körperpyramiden, die einen Arno Breker sicherlich begeistert hätten. Im Gesamtbild des Abends jedoch bekommen diese Tanzsequenzen ein deutliches Übergewicht gegenüber den anderen Gestaltungselementen. Tatsächlich greift die von Roerig mit „Hautkopf“ – so die konsequente deutsche Übersetzung von Skinhead – angestrebte Verbindung von Tanz, Sprechtheater und Oper nur bedingt. Oft fehlt schlicht der künstlerische Ausdruck dafür, dass die aufeinander prallenden Welten nicht mehr in der Lage sind, miteinander in Einklang zu kommen und zu kommunizieren.
Das Libretto des 29-jährigen Berliner Dramatikers Kristo Sagor zeichnet sich ebenfalls durch eine dramaturgische Doppelstrategie aus. In knappen, ausgesprochen pointierten und nicht selten fast satirisch angelegten Spielszenen erzählt er die Stationen einer Verwandlung: Der Abiturient Tobias (ausdruckstark und überzeugend: Andreas Schwankl) findet in seinem Vater (Dominik Stein), einem linksliberalen Kulturpolitiker, zwar Verständnis für alles, aber keinen wirklichen Gesprächspartner. Und schon gar nicht einen Widerpart, der ihm helfen könnte, den eigenen Platz in der Gesellschaft zu finden. Diesen bietet ihm jedoch die Skinheadgruppe. Denn deren Provokationen haben noch Wirkung, auch wenn diese tödlich ist. Die Öffentlichkeit, bei Sagor durch namenlose „Stützen der Gesellschaft“ repräsentiert, reagiert, indem sie allseits bekannte Phrasen, Appelle und Erklärungsversuche im Chor singt, was bisweilen fast zur kabarettistisch zugespitzten Talkshow in Opernform gerinnt.
Immer wieder spielt Sagor mit sprachlichen Reduktionen auf Schlagworte und Halbsätze, sowohl bei den Skinheads wie der bürgerlichen Gesellschaft. Ein Dialog kommt dadurch nicht zustande, die Fronten sind dicht. Aber auch künstlerisch vermögen die Ebenen nicht miteinander zu verschmelzen. Intellektuelle Analytik hat gegenüber der Faszination, die von der sinnlichen Körperlichkeit der Neonazis ausgeht, kaum Chancen zu beeindrucken. So dominiert der Tanz, bisweilen in harter Abgrenzung zu den Spiel- und Gesangsszenen. Auch hier sind die Fronten gewissermaßen fest gezogen. Von einer Auflösung in Harmonie gibt es nichts zu träumen.
Nächste Vorstellungen: 15., 20. bis 22. und 27. bis 30. Oktober, 20 Uhr, Neuköllner Oper, Karl-Marx-Str. 131