: Unauffälliger Nachbar
SCHIESSEREI Was trieb Adam Lanza zu seiner Tat? Motive für den Angriff auf die Kinder und ihre Lehrerinnen liegen im Dunkeln
■ Das älteste Waffengesetz in den USA ist das „Second Amendment“. Als jener Verfassungszusatz im Jahr 1791 verabschiedet wurde, mussten die Gewehre nach jedem Schuss neu geladen werden. Die USA waren noch nicht lange unabhängig, schwarze Menschen sollten noch weitere 74 Jahre versklavt bleiben, Frauen noch 129 Jahre auf ihr Wahlrecht warten. Im Jahr 2012 berufen sich die BefürworterInnen des Rechtes, Waffen zu kaufen, zu besitzen und zu tragen – auch im Fall von halbautomatischen Kriegswaffen – weiterhin auf jenen alten Text.
■ Die US-Waffenlobby hat inzwischen sehr viel politisches Terrain dazugewonnen. Das begann, als Präsident George W. Bush im Jahr 2004 das Verbot von Angriffswaffen, das während der zehn vorausgegangenen Jahre galt, nicht verlängerte. Seit Beginn von Barack Obamas Amtszeit sind laut dem Magazin Mother Jones 99 neue Gesetze in Kraft getreten, die Schusswaffenrestriktionen aufheben oder zurückdrängen. Beispiele: Virginia hat – ausdrücklich als Reaktion auf die Schießerei an der Virginia-Tech-Universität mit 32 Toten – gestattet, dass in dem Bundesstaat wieder Waffen versteckt getragen werden dürfen und dass eine Waffe im Monat gekauft werden darf. Kansas und andere erlauben jetzt das Tragen von versteckten Waffen in Schulen. Louisiana gestattet wieder das Waffentragen in Kirchen. Und in Utah und Nebraska dürfen auch Vorbestrafte jetzt wieder bestimmte Waffen kaufen. Und wie in den Gründerjahren der USA ist es in acht Bundesstaaten (Arizona, Kansas, Wisconsin, Ohio, Maine, New York, Pennsylvania und West Virginia) wieder erlaubt, bewaffnet in eine Bar zu kommen. Obama persönlich hat ein Bundesgesetz unterschrieben, das das Tragen von Schusswaffen in Nationalparks gestattet. (dora)
VON DOROTHEA HAHN
WASHINGTON taz | „Verheerend“. So beschreibt Gerichtsmediziner Wayne Carver bei einer Pressekonferenz in Newtown die Wunden. Er hat die zwanzig erschossenen sechs- und siebenjährigen Mädchen und Jungen und die sechs erschossenen Lehrerinnen von der Sandy-Hook-Grundschule untersucht. Alle sind von mindestens zwei Kugeln aus einer automatischen Schnellfeuerwaffe getroffen worden. Manche von mehr als zehn. Auf die Frage, ob sie gelitten haben, antwortet der Mann, der im weißen Kittel ans Mikrofon gegangen ist: „Nicht sehr lange.“
Zwei Tage nach dem Massaker in der Grundschule steht die idyllische Kleinstadt in Connecticut, und mit ihr das ganze Land, unter Schock. Rund um die Uhr finden Kerzenwachen und -gebete statt. Vereinzelt sind Angehörige der Toten an die Öffentlichkeit getreten. Einer von ihnen ist Robbie Parker, der Vater der erschossenen sechsjährigen Emilie. Mit tränenerstickter Stimme spricht er am Samstag von seiner Tochter, die gerne malte und „hell, kreativ und sehr liebevoll“ war. Er fügt diesen Wunsch hinzu: „Lasst uns das, was so vielen Menschen hier widerfahren ist, nicht zu dem machen, was uns definiert.“
Die Lehrerin Victoria Soto (27) hat ihre SchülerInnen in Wandschränke gescheucht, bevor sie selbst erschossen wurde. Ihre Schwester sagt nun: „Sie ist bei jenen gestorben, die sie über alles liebte.“ Die Direktorin der Schule, Dawn Hocksprung (47), und die Schulpsychologin Mary Sherlach (56) haben in den letzten Momenten ihres Lebens versucht, das Massaker zu verhindern. Sie versuchten den in Kampfuniform gekleideten Adam Lanza (20) zu überwältigen, als er Freitagmorgen in die Schule eindrang – und waren die ersten Personen, die in dem Gebäude ums Leben kamen. Zuvor hatte er seine Mutter in dem gemeinsamen Haus mit einem Schuss ins Gesicht ermordet.
Nach gegenwärtigem Stand der Ermittlungen sind die Kinder und die Lehrerinnen von Kugeln aus einem halbautomatischen Sturmgewehr vom Typ Bushmaster getötet worden. Die Motive des Schützen liegen noch im Dunkeln. Der Todesschütze und seine seit Jahren geschiedene Mutter Nancy Lanza werden in ihrem Stadtteil als unauffällige Nachbarn beschrieben.
Nancy Lanza war eine Waffensammlerin: Sie besaß viele Schnellfeuerwaffen und soll mit ihren beiden Söhnen zu Schießübungen gegangen sein. Aus dem Bestand der Mutter stammen auch die drei Waffen, die der Sohn dabeihatte: eine deutsche Sig Sauer, eine österreichische Glock und die US-amerikanische Bushmaster.
„Umarm einen Lehrer“ steht auf einem der zahlreichen beschriebenen Betttücher, die an diesem Wochenende in Newtown hängen. Millionen US-Amerikaner haben inzwischen auf die Tragödie reagiert. Der Schauspieler Morgan Freeman rief dazu auf, die Fernseher auszuschalten, weil die Medien detailliert über den Täter und sein Leben berichten, ihn damit posthum zum Helden machten und die Opfer verdrängten. „Wer weiß heute noch einen einzigen Namen der Toten von Columbine?“, fragte Freeman in Erinnerung an ein früheres Schulmassaker.
Barack Obama wollte am Sonntagabend in Newtown die Familien der Toten treffen und an einer ökumenischen Trauerveranstaltung teilnehmen. In seiner Zeit als Präsident ist es seine vierte Reise an den Schauplatz eines Blutbades. In diesem Jahr war er wegen tödlicher Schüsse in einem Sikh-Tempel in Wisconsin und wegen tödlicher Schüsse in einem Kino in Colorado.
Unterdessen mehren sich die Stimmen, die von dem US-Präsidenten verlangen, dass er endlich ein Machtwort für mehr Schusswaffenkontrolle spricht. Andere PolitikerInnen, darunter der republikanische Bürgermeister von New York, Michael Bloomberg, sowie zahlreiche demokratische Kongressabgeordnete, tun das längst. Im Internet taucht erneut ein „Wanted“-Poster auf. Darauf wird Wayne LaPierre, der Sprecher der mächtigen „National Rifle Association“, NRA, mit 4,2 Millionen Mitgliedern, als „Chef der größten terroristischen Vereinigung“ gesucht. Auf Seiten der Schusswaffenlobby hat am Freitag bereits die Gegenoffensive begonnen. Das Leitmotiv und die angebliche Antwort auf Newtown lautet dort: Lehrerbewaffnung.