: „Eine Lust am Schaudern“
INTERVIEW HEIDE OESTREICH UND SABINE AM ORDE
taz: Der Mord an Hatun Sürücü, der zur Zeit vor dem Berliner Landgericht verhandelt wird, gilt in der Öffentlichkeit als klassischer Ehrenmord. Ist er das?
Werner Schiffauer: Das Klischee von einem klassischen Ehrenmord geht so: Die Familie steht unter Druck von Verwandten und der Nachbarschaft. Ein Familienrat befindet, wie die Familienehre zu retten ist. Meist wird dann ein junges männliches Mitglied der Familie beauftragt, die Frau, die die Ehre verletzt hat, umzubringen. Das trifft auf den Fall Sürücü nicht zu.
Und was trifft zu?
Nach der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft geht es bei dem Fall Sürücü nicht darum, was die Kultur verlangt. Die Sürücüs sind eine Familie aus der Unterschicht, die Migrationsdramen durchlebt und viele Probleme hat: Der älteste Sohn sitzt wegen Drogenhandels im Gefängnis, ein anderer ist ebenfalls straffällig geworden. Zudem ist unklar, ob die Familie als Ganzes überhaupt eine Rolle spielt. Heute hier in Deutschland ist der Familienrat, der den Tod beschließt, nicht das Hauptmuster.
Was ist das Hauptmuster?
Häufig steigern sich junge Männer in etwas hinein. Dabei spielt die Männersubkultur der Gangs eine wichtige Rolle. Da ziehen deklassierte Jungs mit mit erheblichen Problemen und vermeintlichen oder tatsächlichen Diskriminierungserfahrungen durch die Straßen. Sie pflegen einen Ethnizitätsdiskurs: Wir sind super, wir sind den Deutschen überlegen, wir sind Türken. Dieser Diskurs arbeitet mit Versatzstücken aus Gangsterfilmen, der türkischen Kultur, des Islams und auch der Ehre. Die haben oft selbst Frauenbeziehungen, setzen aber die Schwestern der anderen herab, wenn die ihre Jungfräulichkeit angeblich nicht hüten. Das zusammen kann Gewalt auslösen. Und es kann durchaus sein, dass die Familie nach einer Tat dann die Hände über dem Kopf zusammenschlägt.
Sie glauben also, dass Ehrverbrechen unter Migranten in Deutschland nach einem anderen Muster funktionieren als in der Türkei?
Ich will nicht leugnen, dass es auch hier den klassischen Ehrenmord gibt. Aber man muss erklären, warum es ihn trotz allem in Berlin gibt: Hier ist die soziale Kontrolle doch viel geringer als in anatolischen Dörfern. Nachbarn reden zwar über einen, aber das ist nicht entscheidend für das Überleben der Familie.
Der Berliner Linkspartei-Abgeordnete Giyas Sayan, der selbst Kurde ist und in bedrohlichen Familienkonflikten vermittelt, glaubt, dass der Druck aus dem Clan auch hier durchaus groß genug sein kann, um ein Verbrechen zu bewirken.
Bei dem Familienleben der Berliner Türken ist Ehre nicht unbedingt handlungsleitend: Es gibt unheimlich viele Scheidungen und fast jede Familie hat ein Problem mit dem einen oder anderen Kind. Allein deshalb ist es unwahrscheinlich, dass der Druck so groß werden kann.
Wie erklären Sie sich dann die Motivlage bei dem Hauptangeklagten?
Bei Ayhan Sürücü hat man den Eindruck, dass er auf der Suche ist. Er war kurz bei der Kaplan-Gemeinde …
… der verbotenen islamistischen Organisation um den ehemaligen Kalifen von Köln, Metin Kaplan.
Genau, aber er war auch bei der PKK, am 1. Mai hat er Steine geschmissen. Das ist nicht gerade kohärent. Vielleicht hat er sich in den Wahn hineingesteigert, dass er die Familie retten muss. Vielleicht haben die Brüder ihn aber auch gedrängt.
Was folgt daraus, wenn man wie Sie zwischen dem klassischen Ehrenmord, der in der kurdischen Kultur begründet ist, und einem Desintegrationsproblem unterscheidet?
Wenn man von einem kulturellen Muster ausgeht, das vom Hodscha, dem Vorbeter, und der Community mitgetragen wird, dann ist die Kultur das Problem. Wenn man aber davon ausgeht, dass es sich um ein Desintegrationsproblem handelt, dann kann man versuchen, diese Kräfte mit ins Boot zu holen und dem gemeinsam entgegenzuwirken. Hier muss man ansetzen.
Zwei der drei Brüder haben regelmäßig eine Moschee besucht, die zu einer Abspaltung der Kaplan-Gemeinde gehört. Nach Aussage der Hauptbelastungszeugin, Ayhans Sürücü Exfreundin, ist dort eine islamische Erlaubnis für den Mord erteilt worden. Passt das zu Ihrem Bild von dieser Organisation?
Eigentlich nicht. Die Kaplan-Leute sind sehr Scharia-orientiert. Die klassische Ansicht der Scharia aber ist, dass das Leben in Gottes Hand liegt und dass die selbst vollzogene Rache nicht islamisch ist. Es gibt dann islamische Gerichtshöfe, die das Recht auf Blutfehde erteilen können. Ein einzelner Hodscha ist dazu nicht befugt.
Wie ist Ihr Eindruck von der öffentlichen Debatte, die um die Ehrenmorde entstanden ist?
Ich sehe die Debatte mit großem Unbehagen, denn mit dem Etikett „Ehrenmord“ wird auch eine Lust am Schaudern bedient. Im Moment werden in der Berliner Öffentlichkeit fünf Morde als Ehrenmorde gehandelt, davon sind vier Fälle, in denen ein Partner oder Expartner aus vielfältigsten Gründen seine Partnerin ermordet hat. Einmal spielte etwa eine Rolle, dass er nach der Scheidung abgeschoben werden sollte – da bauen also ganz andere Faktoren einen Druck auf als die „Ehre“ der Familie.
Sie meinen, dass der Begriff Einwanderer ausgrenzen soll?
Der Begriff „Ehrenmord“ etikettiert diese Fälle als etwas, was in der deutschen Mehrheitsgesellschaft nicht passieren kann. Im Fall von Hatun Sürücü hieß es immer wieder: Sie wollte leben wie eine Deutsche – damit hat man ein soziales Drama ethnisiert und „den anderen“ zugeschoben. Und wenn dann die Richter sagen, so einfach ist der Fall nicht, dann werden Kronzeuginnen wie Necla Kelek zitiert, die sagen, die Justiz müsse konsequent Stellung beziehen.
Die Soziologin Necla Kelek greift das patriarchale Erbe in den muslimisch geprägten Einwandererfamilien an. Hat sie damit nicht Recht?
Das Problem ist, dass sie das undifferenziert tut und damit von der Mehrheitsgesellschaft als Kronzeugin benutzt wird – gegen die Migranten insgesamt: Wenn eine Migrantin das sagt, dann können sich die Deutschen mit ihren Ressentiments dahinter verstecken.
Es gibt am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg, wo die Familie Sürücü wohnt, etwa 30 verschiedene Nachbarschaftsprojekte, Lehrer behandeln Themen wie Ehrenmorde in der Schule – kann die Gesellschaft schlicht nichts mehr ausrichten?
Das glaube ich nicht. Man kann natürlich nicht mit Kosmetikprogrammen arbeiten. Es braucht Geld. Dann könnte man die Schulsituation verbessern: Kleinere Klassen, bessere Betreuung und damit bessere Startbedingungen für Jugendliche – das würde etwas nützen.
Was kann ein Kreuzberger Politiker tun, der sich kein Geld drucken kann?
Er sollte Verbündete suchen – und zwar in den muslimischen Gemeinden. Wenn man, wie Necla Kelek, den Islam pauschal verantwortlich macht, dann ist das natürlich schwierig. Die Gemeinden fühlen sich angegriffen und mauern sich ein. Stattdessen sollte man sagen: Wir wissen, dass ihr diese Situation auch nicht wollt, und nun lasst uns überlegen, was wir zusammen tun können.
Gerade Feministinnen wollen unterdrückten muslimischen Frauen helfen. Die haben naturgemäß wenig Neigung, sich mit dem patriarchalen Gemeinden zusammenzutun.
Trotzdem muss man vermeiden, dass die Frauen, die Hilfe suchen, wirken, als hätten sie die Seiten gewechselt. Dann gelten sie als untürkisch, unislamisch, wie Deutsche. Das erhöht nur die Hürden. Deshalb hoffe ich viel mehr auf muslimische Initiativen und muslimische Frauen. Die Frauenrechtsanwältin Seyran Ates arbeitet zum Beispiel selbstverständlich mit Hodschas zusammen, um die Fälle zu entschärfen.
Die Frauenrechtsorganisation Terre des femmes macht eine Kampagne gegen Ehrenmorde. Halten Sie das dann für kontraproduktiv?
Meines Erachtens klebt man mit dem Etikett Ehrenmord eine komplexe soziale Realität zu. Wenn man all diese komplizierten Eifersuchtsdramen und Vater-Tochter-Konflikte als Ehrenmorde zählt, kommt man an die eigentlichen Wurzeln der Konflikte nicht heran. Man muss stattdessen die jungen Frauen unterstützen. Und man muss dringend Männerforschung betreiben, denn es sind ja die Männer, die mit ihrer Situation nicht klarkommen, wenn sie gewalttätig werden. Was bedeutet es etwa für die Brüder Sürücü, wenn ihre Schwester eine Ausbildung macht, auf eigenen Füßen steht, quasi an ihnen vorbeizieht? Das ist eine spannende Frage.