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Archiv-Artikel

Kuhle im Doppelbett

Die Missbrauchsdebatte über ALG-II-Empfänger flammt wieder auf. Dabei sind Mythen und Fakten leicht zu trennen. Auch junge Erwerbslose und 1-Euro-Jobber lassen Kosten für die Leistung steigen

VON BARBARA DRIBBUSCH

Die Zeiten sind mies, politische Sensationen derzeit nicht mehr zu erwarten, also wird der alte Dauerbrenner wieder entfacht. „Die üblen Tricks der Hartz-IV-Schmarotzer“ schlagzeilte gestern Bild unter Verweis auf Einzelfälle zum Sozialmissbrauch, die Mitarbeiter des Clement-Ministeriums für Wirtschaft und Arbeit aus den örtlichen Sozialbehörden zu einem 33-seitigen Report zusammengetragen haben. Darunter waren Geschichten über Paare, die ihre eheähnliche Gemeinschaft leugneten, als die Prüfer vom Amt auftauchten, und über Erwerbslose mit sattem Nebenverdienst.

Die Sozialgeschichten entbehren zwar nicht einer gewissen Komik, etwa wenn Arbeitslose einer Prüferin erzählen, die Kuhle im Doppelbett stamme nicht etwa vom Freund, sondern von der Nachbarin, die am Vorabend zum Bibellesen da war. Lustig ist auch der Schwank vom Liebhaber, der splitterfasernackt auf den Balkon flüchtete, als der Prüfdienst mal nachschauen wollte, ob die Lebensgefährtin tatsächlich ohne unterhaltsverpflichteten Partner lebte. Doch abgesehen vom Unterhaltungswert der Debatte lohnt auch ein Blick auf die Fakten – und die lassen sich von den Mythen immer noch trennen.

Mythos 1: Die Kosten für das Arbeitslosengeld II steigen in die Höhe, weil sich viele Menschen lieber erwerbslos melden, als zu ackern.

4,882 Millionen Menschen bezogen im September Arbeitslosengeld II. Die Kosten für den Bund werden in diesem Jahr bei 26 Milliarden und damit um elf Milliarden Euro höher liegen als vorgesehen. Das Bundesministerium hat also schlecht geplant. Denn die Jobmarktlage ist nach wie vor miserabel – die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Stellen geht weiter zurück. Und nur eine richtige Stelle, nicht ein Mini- oder 1-Euro-Job, können den Bezug von Arbeitslosengeld II überflüssig machen.

Mythos 2: Viele Menschen melden sich erwerbslos, obwohl sie keinen Anspruch auf die Leistung haben.

Nicht vor allem der Missbrauch, sondern gesetzliche Neuerungen lassen die Zahl der ALG-II-Empfänger steigen. Beispielsweise erhalten alle Langzeitarbeitslosen das ALG II, dazu zählen auch Selbständige und junge Erwerbslose, die nie Beiträge eingezahlt haben. Diese Leute bekamen früher lediglich Sozialhilfe. Im Unterschied zur Sozialhilfe wird beim ALG II der über 18-Jährigen aber nicht mehr das Einkommen der Eltern in die Berechnung der Leistung mit einbezogen. Heute gibt es daher Fälle, wo sich junge Arbeitslose bei den Jobcentern erwerbslos melden und vielleicht sogar von zu Hause ausziehen, um den Regelsatz plus Miete für ihren Lebensunterhalt zu bekommen. Einige dieser Leute waren vielleicht zuvor ohne eigenes Einkommen – nur haben sie damals möglicherweise den Gang zum Sozialamt gescheut und sich unter Umständen von den Eltern zu Hause mit durchfüttern lassen. Die Zahl der gemeldeten Arbeitslosen unter 25 Jahren ist im Januar diesen Jahres im Vergleich zum Vorjahresmonat um mehr als ein Viertel gestiegen.

Eine weitere Neuerung: Die Teilnehmer an Beschäftigungsmaßnahmen, früher ABM, fielen damals für die Zeit der Maßnahme nicht nur aus der Statistik, sondern bekamen auch kein Arbeitslosengeld, sondern eben ihren Lohn für die ABM. Heute bieten die Jobcenter oftmals nur noch 1-Euro-Jobs an. 1-Euro-Jobber aber beziehen weiter das ALG II und bekommen das Entgelt für den Kleinstjob, nämlich die 1 bis 1,50 Euro die Stunde, nur obendrauf. Nach den jüngsten Zahlen stecken 256.000 Menschen in 1-Euro-Jobs, auch diese Leute belasten also den Haushalt für das ALG II, ohne dass man von Missbrauch sprechen kann.

Mythos 3: Viele Leute verschweigen, dass ein gut verdienender Lebenspartner vorhanden ist, um nicht den Anspruch auf ALG II zu verlieren.

Die Fälle, dass etwa eine Frau Stütze bezieht, obwohl sie mit ihrem betuchten Freund zusammenlebt, waren auch früher schon ein Klassiker für die Prüfer von den Sozialämtern. Es gibt bisher keinerlei Zahlen darüber, dass das Verschweigen von partnerschaftlichen Lebensverhältnissen bei ALG-II-EmpfängerInnen zugenommen hat. Übrigens haben einzelne Sozialgerichte schon geurteilt, dass ein Lebenspartner nicht unbedingt für seine Freundin unterhaltsverpflichtet sein muss. Man stelle sich nur mal vor, wie attraktiv eine allein erziehende Mutter auf ALG II auf dem Partnerschaftsmarkt wirken muss, wenn potenzielle Liebhaber damit rechnen müssen, frühmorgens vom Prüfdienst aus dem Doppelbett gejagt zu werden. Ganz abgesehen davon, dass der Denunziation durch missgünstige Nachbarn und Vermieter Tür und Tor geöffnet wird.