: Der Leuchtturmwärter wird Minister
Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee lässt sein Leipzig im Stich, um in Berlin Bundesverkehrsminister zu werden. Die Verflossene hat das Nachsehen
VON DAVID DENK
Leuchttürme, überall Leuchttürme. Egal, wie man sich Leipzig nähert, ob mit Flugzeug, Bahn oder Auto, es gibt kein Entkommen: Flughafen, Hauptbahnhof, Neue Messe. Diese Stadt macht schon bei der Anfahrt klar, dass sie es gerne eine Nummer größer hat – auch auf die Gefahr hin, an ihren eigenen Ansprüchen zu scheitern. Flughafen und Bahnhof sind längst nicht ausgelastet, das Projekt Olympia 2012 ist wohl auch an der Selbstüberschätzung der Beteiligten gescheitert. So ist das mit den Leuchttürmen: Sie weisen den Weg, manchmal blenden sie aber auch einfach nur.
Sein Platz war in Leipzig
Jetzt tritt der Leuchtturmwärter ab. Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee geht als Bundesverkehrsminister nach Berlin. „Mein Platz ist in Leipzig“ – das war einmal, 2002, als er dem Ruf des Kanzlers öffentlichkeitswirksam widerstand. Die Leipziger werteten dies als Liebesgeständnis und bestätigten ihn im April 2005 mit 67,1 Prozent im Amt. „Ich glaube an diese Stadt, ich glaube an diese Menschen“, sagte er damals. „Leute wie Tiefensee“, schrieb die Zeit 2001, „sind für den Geschmack westdeutscher Zyniker eigentlich zu gut, um wahr zu sein.“
Am Samstag in Leipzig. Seit zwei Tagen ist raus, dass Tiefensee nach Berlin gehen wird. Die Sonne strahlt, Leipzig leuchtet, und doch macht die Zeitungsverkäuferin im Kiosk am Marktplatz ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. „Ich find’s nicht in Ordnung, dass er geht und uns hier ein Chaos hinterlässt“, sagt sie mit vorwurfsvollem Unterton, als habe ihr Ehemann sie und die sechs Kinder über Nacht wegen einer 19 Jahre alten Stripperin verlassen. „Aber wenn er sich zu Höherem berufen fühlt …“ Der Satz verebbt in bedeutungsschwangerem Schweigen. So denken übrigens auch die meisten ihrer Kunden, sagt sie noch, bevor man mit Bild und Leipziger Volkszeitung, dem Springer-dominierten Meinungskartell, den Laden verlässt.
Am LVZ-Lesertelefon wird aus dieser einen Klage ein Chor der Erniedrigten und Beleidigten: „Die Ratten verlassen das sinkende Schiff“, Flucht aus der Verantwortung“, „Jetzt haben wir die großen Probleme – und er geht“, „Ich bin froh, dass Tiefensee endlich geht“, „Der ist ein Schönwetter-Politiker, Gerhard Schröder II“, „Verrat“.
Als Dorothea Schwarze diese Aufschreie liest, zieht sie die Stirn unter ihren blonden Locken kraus. „Irrational“ findet sie die Vorwürfe und erklärt dem Besucher aus Berlin vorsichtshalber: „Das ist ein Quengel-Telefon.“ Die Bielefelderin sitzt mit ihrem Freund, dem Leipziger Rechtsanwalt Eckehard Müller, beim späten Wochenendfrühstück im Café Telegraph. Tiefensee sei von Beruf Politiker, stellt sie klar. Nicht mehr und nicht weniger. „Die Leute vermischen die politische Ebene mit der persönlichen.“ Es sei keine Entscheidung gegen Leipzig, sondern für die Karriere. Für ihren Freund „war klar, dass der irgendwann geht“. Er vermutet, dass ihm der „Frust über die Gremien“ den Abschied versüßt hat.
Auch Müller nennt Tiefensee einen „Schönwetter-Politiker“, allerdings weniger verbittert, fast schon bewundernd. Denn vor allem fürs Image im Westen habe Tiefensee viel getan: „Dass es hier grau ist und wenig lebenswert, traut sich heute doch keiner mehr zu sagen.“ Mit zwei Imagekampagnen hat die Stadt seit der Wende für sich geworben: „Leipzig kommt“ und „Leipziger Freiheit“. „Wir orientieren uns an Hamburg, München und Berlin, und wir brauchen den Vergleich mit London nicht zu scheuen.“ Der Satz könnte auch von Tiefensee sein, stammt aber von der Werbeagentur, die sich die Kampagne „Leipziger Freiheit“ ausgedacht hat. Das ist es wohl, was Spiegel Online „sympathischen Größenwahn“ nennt.
Anruf bei Nikolaikirchen-Pfarrer Christian Führer: Leider habe er keine Zeit für ein persönliches Treffen. Doch das macht eigentlich nichts, man weiß eh, wie er aussieht, graue Bürstenhaare und Jeans-Outfit. Das Gesicht der Montagsdemo, nicht nur 1989 für die Freiheit, sondern auch 2004 gegen Hartz IV.
Die Gemeinde hilft
Die Nikolaikirche ist ein politisches Gotteshaus. „Die Gemeinde hilft beim Ausfüllen der Formulare zum Arbeitslosengeld II“, informiert ein Aushang in der Kirche, und Pfarrer Führer bezieht am Telefon Stellung: „Ich finde den Vorwurf absurd, dass Wolfgang Tiefensee sich aus der Verantwortung stiehlt und besser gar nicht mehr angetreten wäre. Woher hätte er denn vor der letzten OBM-Wahl wissen sollen, was jetzt auf ihn zukommt?“
Die Oberbürgermeister-Wahl war am 10. April, Neuwahlen auf Bundesebene wurden aber erst nach dem SPD-Debakel bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 22. Mai spruchreif. Und danach schien die Wahrscheinlichkeit einer weiteren Regierungsbeteiligung der SPD eher gering.
„Wolfgang Tiefensee war ein sehr guter Mann für Leipzig“, äußert sich Führer ungewohnt zahm, „ein Visionär“. Für ihn ist Tiefensees Weggang nur folgerichtig: „Gute Leute müssen auch in entsprechende Positionen kommen. Mit Flucht hat das nichts zu tun.“
Dabei gäbe es dafür in Leipzig genügend Anlässe: Zwar hat Tiefensee während seiner Amtszeit das Kunststück vollbracht, Porsche, BMW und DHL in Leipzig anzusiedeln, doch die Probleme bleiben: 900 Millionen Euro Schulden, also 1.870 Euro pro Kopf, eine Arbeitslosenquote von mehr als 20 Prozent und ein Haushaltsloch von 83 Millionen Euro. Ende September musste deswegen eine Haushaltssperre verhängt werden. „Kärrnerarbeit hätte vor ihm gelegen“, sagt André Böhmer, stellvertretender Chefredakteur der Leipziger Volkszeitung, „denn Leipzigs Ruf ist besser als die tatsächliche Lage, der Schein besser als das Sein.“ Und so hat Leipzig mit Riccardo Chailly zwar einen Star als Gewandhauskapellmeister, aber immer noch Schulen in maroden Plattenbauten.
Nicht nur an Geld mangelt es der Leipziger Verwaltung, sondern auch an Personal: Nach Bürgermeister und Stadtkämmerer Peter Kaminski (CDU), der Ende 2004 wegen dubioser Provisionsvergaben beim Bau des Zentralstadions seinen Hut nehmen musste, wurde am Mittwoch auch Tiefensees zweiter Stellvertreter Holger Tschense vom Stadtrat abgewählt, weil er es einfach nicht lassen konnte, ohne Führerschein Auto zu fahren.
„Das politische Personal dieser Stadt bietet definitiv keinen, der vom Charisma her Tiefensee ebenbürtig ist“, sagt Björn Achenbach, Chefredakteur des Stadtmagazins Kreuzer. Am ehesten komme wohl noch Burkhard Jung in Frage, „nur, so viel Gras ist über die Sache auch noch nicht gewachsen“. Jung war Olympiabeauftragter der Stadt und musste wegen dubioser Provisionszahlungen zur Sponsorenakquise zurücktreten.
Schweigen ist Ehrensache
„Teflon-Wolfgang“ müsste man sein, denn an Tiefensee ist während seiner Amtszeit Kritik stets abgeperlt. Eine Gabe, die ihn auch jetzt nicht verlässt. Fundierte Kritik äußert kaum einer – noch nicht mal der Schriftsteller Erich Loest: „Ich will dazu nichts sagen, weil ich Ehrenbürger dieser Stadt bin und dadurch befangen.“ Seltsam nur, dass Loest schon 1996 Ehrenbürger wurde und noch voriges Jahr in der Zeit ätzte, Tiefensee könne zwar recht hübsch Cello spielen, „aber er duftet nicht nach SPD“.
Über Tote also mal wieder nur Gutes, denn für die sächsische Metropole Leipzig ist Wolfgang Tiefensee gestorben – auch wenn er angekündigt hat, dort wohnen zu bleiben.