Kein Platz mehr für die Toten

Der tschetschenische Rebellenführer Bassajew bekennt sich zum Angriff auf Naltschik. Das Vorgehen der russischen Regierung hat die Bereitschaft zum Widerstand bestärkt

MOSKAU taz ■ Reihen von Toten liegen vor den Leichenschauhäusern in Naltschik. Islamistische Rebellen hatten in der Hauptstadt der nordkaukasischen Republik Kabardino-Balkarien am Donnerstag einen groß angelegten Angriff auf staatliche Einrichtungen lanciert. „In den Leichenschauhäusern ist kein Platz mehr“, sagt die Journalistin Fatima Tlisowa. Grelle Scheinwerfer sind auf die entblößten Körper gerichtet. Gläubige Muslime empfinden dies als Erniedrigung. Auch vier Tage nach dem Terrorakt suchen Verwandte noch nach verschollenen Angehörigen. Gestern blockierten verzweifelte Frauen das Regierungsgebäude und die Staatsanwaltschaft. Die Behörden weigern sich, die sterblichen Überreste für ein Begräbnis freizugeben. Nach offizieller Darstellung waren die Toten fast ausnahmslos aufständische Rebellen, deren Leichen die Sicherheitsbehörden nach dem russischen Antiterrorgesetz nicht an die Familien übergeben müssen.

Die große Zahl der Opfer lässt an der offiziellen Version indes Zweifel aufkommen. Viele Bürger behaupten, ihre Angehörigen seien von den Schießereien überrascht und Opfer des Chaos geworden, das nach dem Überfall auf der Straße herrschte.

Das Vorgehen der Regierung folgt einem von früheren Terrorangriffen bekannten Muster: Nach der Operation der Sicherheitskräfte decken sich meist die Zahlen von toten und gefangenen Rebellen mit denen der Angreifer. Das soll Effektivität und Wachsamkeit vortäuschen. Dazu zählt auch die willkürliche Festnahme von unbeteiligten Bürgern an Kontrollpunkten oder bei Säuberungsaktionen, die zu Geständnissen genötigt werden. Wer sich weigert, verschwindet nicht selten.

Inzwischen übernahm der tschetschenische Terrorist Schamil Bassajew auf der Website der Rebellen die Verantwortung für den Überfall, an dem 217 „Mudschaheddin“ beteiligt gewesen sein sollen. 41 seien bei dem Angriff ums Leben gekommen. Offizielle Angaben gehen von über 90 getöteten und 37 festgenommenen Islamisten aus. Der Terrorakt sei von dem Emir des kabardinischen Abschnitts der Kaukasusfront, Seifullah, geleitet worden, der an der Operation aber nicht beteiligt gewesen sei, heißt es auf der Website.

Bassajew versucht den Eindruck zu erwecken, als hätten seine Freischärler bereits die gesamte Kaukasusregion infiltriert. Was vor geraumer Zeit noch eine Übertreibung war, kommt inzwischen der Wirklichkeit indes recht nahe. Dies bestätigte ungewollt auch Russlands Verteidigungsminister Sergei Iwanow. Darum bemüht, die Rolle des tschetschenischen Terroristen herunterzuspielen und die Funktionsfähigkeit der Sicherheitsbehörden zu unterstreichen, stritt er die Beteiligung tschetschenischer Rebellen ab. Der Überfall sei allein von Terroristen aus Kabardino-Balkarien verübt worden, sagte der Minister. Das deckt sich mit Berichten von Einheimischen, die unter den Toten viele bekannte Gesichter gesehen haben wollen.

Zur Beruhigung der Bevölkerung trug der Verteidigungsminister durch die freimütige Äußerung nicht bei. Vielmehr stellte er die Effektivität der Antiterrorpolitik des Kreml infrage, die, statt Tschetschenien zu befrieden, einen weiteren Konfliktherd geschaffen hat. Dass nach dem Überfall Ruhe einkehrt, glauben die Menschen in Naltschik nicht. Sie reagierten mit Hamsterkäufen, Mineralwasser und Brot sind ausverkauft. Aus Angst vor einem neuen Terrorakt oder einer willkürlichen Festnahme verlassen viele Einwohner die Häuser nicht.

Die Weigerung der Verantwortlichen, die Leichen herauszugeben, wird die Bereitschaft zum Widerstand unter den meist sehr jungen radikaleren Muslimen eher noch verstärken. Vor einem Jahr kämpfte nur eine Minderheit der Islamisten in Gruppen wie „Jarmak“ oder „Dschamaat Nr. 3“ für die Errichtung eines kaukasisch-islamistischen Staates und gegen die Herrschaft Moskaus. Das Vorgehen der Polizei und des Geheimdienstes seit Sommer letzten Jahres hat den radikalen Muslimen immensen Zulauf verschafft. Damals eröffnete der Inlandsgeheimdienst FSB und die 6., für den Kampf gegen religiösen Extremismus zuständige Abteilung im Innenministerium eine Hatz auch auf viele Muslime, die sich nichts hatten zuschulden kommen lassen. Bis auf eine Moschee, die dem regierungsnahen Geistlichen Rat der Muslime untersteht, wurden alle anderen Gotteshäuser geschlossen. Viele junge Gläubige, die sich auf einer Liste des Geheimdienstes von 500 angeblichen Extremisten wiederfanden, gingen daraufhin in den Untergrund und schlossen sich militanten Gruppen an.

KLAUS-HELGE DONATH