: Ins dichte Lagernetzwerk
Mit zwei Bänden startet eine große monografische Reihe zur Geschichte der NS-Konzentrationslager – verdienstvoll
Barbara Distel und Wolfgang Benz, beide seit langem und erfolgreich auf dem Gebiet der Erforschung des Naziterrors tätig, haben sich vorgenommen, eine umfassende Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager herauszugeben. Das Unternehmen ist auf sieben Bände angelegt, jetzt liegen die beiden ersten vor. Der einleitende Sammelband befasst sich mit der Wirklichkeit des Lagersystems, seiner Organisationsgeschichte, dem „Innen“ und dem „Außen“ der Lager. Der zweite eröffnet die monografische Reihe mit der Geschichte der frühen Lager nach der „Machtergreifung“, des KZ Dachau und des Emslandlagers samt Außenlagern. Das Unternehmen ist notwendig und kommt zur rechten Zeit. Warum?
Die Autoren beider Bände verzichten darauf, die große Zahl der Werke gerade der letzten Zeit, die sich aus philosophischer oder soziologischer Sicht um eine Erklärung des KZ-Systems bemühen, um ihre eigene Sicht zu bereichern. Und die Herausgeber betonen, dass es ihnen in erster Linie um die historischen Fakten ginge. Aber sind wir nicht schon übersatt angesichts der angehäuften Tatsachen? Keineswegs. Zum Ersten liegen nicht einmal über alle KZ-Stammlager Monografien vor. Zum Zweiten sind die Arbeiten gerade über die Neben- und Außenlager oft weit verstreut oder finden sich in verdienstvollen, aber nicht überall zugänglichen Reihen wie den von Barbara Distel betreuten Dachauer Heften. Oder sie sind der Arbeit der Geschichtswerkstätten zu danken. Zum Dritten ist gerade im vergangenen Jahrzehnt ein neues Forschungsinteresse an der Geschichte der Täter erwacht. Dieses Interesse trifft mit der Beunruhigung einer neuen Generation zusammen, die nach Antriebskräften, Karrieren, nach den Motiven der Täter und Gehilfen fragt, nach Zwängen und nach „Handlungsspielräumen“. Gerade für die Beantwortung dieser Fragen liefert der erste Band eine Faktengrundlage.
Viertens und am wichtigsten sehen wir uns mit einer Linie in den Medien wie in der Unterhaltungsbranche konfrontiert, in der, um des emotionalen Effekts willen, mit der oft komplizierten, widersprüchlichen Realität der Lager willkürlich umgesprungen wird.
Gertrud Koch hat es in dem von ihr herausgegebenen Werk „Bruchlinien“ so ausgedrückt: „Das bereits Gewusste wird fiktional verdünnt.“ Dieser bis zu „Schindlers Liste“ fühlbaren Tendenz kann ein Geschichtswerk entgegenwirken, das einer trivialen oder überzeitlichen Betrachtungsweise hartnäckig die historische Verortung entgegensetzt.
Die Autoren des Sammelbandes sind Fachleute, die meist schon mit einschlägigen Untersuchungen hervorgetreten sind. Die einzelnen Beiträge sind kurz, komprimiert und doch in der Regel gut lesbar. Basiskenntnisse werden vermittelt, aber auch der neueste Forschungsstand wird referiert. Oft glaubt der interessierte Leser, schon alles über ein Thema zu wissen, wird dann aber, wie zum Beispiel in dem Aufsatz von Annette Eberle über Häftlingskategorien und Kennzeichnungen, doch lückenhafter Kenntnisse überführt.
Was fehlt? Gibt es etwas auszusetzen? Man hätte sich gewünscht, dass das Verhältnis der Bevölkerung zu den Lagern in den Themenkreis des ersten Bandes einbezogen worden wäre. Neue Werke wie die umstrittene Arbeit von Robert Gellately „Hingeschaut und Weggesehen“ hätten hierfür einen Anstoß geben können. In dem um Differenzierung bemühten, genauen Beirag Kurt Pätzolds über die „Lagergesellschaft“ wäre es gut gewesen, wenn sich der Autor näher mit der quälenden Problematik der „roten Kapos“, der politischen Funktionshäftlinge, befasst hätte. Auch ein spezieller Beitrag über die Hierarchie unter den Häftlingen und die Auseinandersetzung unter verschiedenen Häftlingsgruppen in den Phasen von 1933 bis 45 wäre wünschenswert gewesen. Schließlich fehlt dem ersten Sammelband eine systematische Auseinandersetzung mit der bedeutenden autobiografischen Literatur ehemaliger KZ-Häftlinge, deren Werke für viele von uns den ersten Anstoß für die Beschäftigung mit der nazistischen Mordmaschine gegeben haben.
Dem zweiten, von Angelika Königseder herausgegebenen Band gelingt es weitgehend, das Versprechen des ersten einzulösen. Der Funktionswandel der KZs vom Instrument des Terrors gegen politische Oppositionelle über die Internierung aller missliebigen oder als minderwertig angesehenen Gruppen bis zur massenhaften Vernutzung der Sklavenarbeiter und zum Massenmord wird exemplifiziert. Eigentlich bedeutsam aber ist die Darstellung des dichten Lagernetzwerks, das der zweite Band erschließt.
Dieses Netz von Außen- und Nebenlagern wird – beispielsweise im Fall des KZ Dachau – nicht nur anhand der großen, an die Industriebetriebe angeschlossenen Lager aufgezeigt, sondern die Ausbeutung der Sklavenarbeiter wird bis in die Häuser irgendwelcher NS-Bonzen verfolgt. Zwangsarbeiter einschließlich der Kriegsgefangenen aus dem Osten und der KZ-Sklavenarbeiter gehörten zum Alltag des deutschen Volkes seit der zweiten Hälfte des Krieges, und ihr Nutzen war eben nicht nur auf die Profitmaximierung der Großindustrie beschränkt.
Eigentlich wurde schon kurz nach Kriegsende die riesige Ausdehnung und Verzweigung des KZ-Systems dokumentiert, so im Vorfeld der Nürnberger Prozesse. Aber im öffentlichen Bewusstsein galten nur die Stammlager als die „eigentlichen KZs“; eine Haltung, die klar von apologetischen Motiven bestimmt war. Dies richtig zu stellen macht nicht das geringste Verdienst dieses zweiten Bandes aus.
CHRISTIAN SEMLER
Wolfgang Benz/Barbara Distel: „Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager“. Bände 1 + 2, C.H. Beck, München 2005, 400 bzw. 608 Seiten, je 59,90 Euro
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